Erstes Kapitel
Meine Katze Krümel ist tot. Leukose. Sieben Jahre begleitete sie mich, dann warf es sie nieder. Sie lag zwei Tage herum, fraß nicht mehr, hatte hochgelbe Ohren, der Blick war verschleiert. Sie maunzte nicht, sie hatte Fieber, 39,8 Grad, sie schleppte sich, konnte die Hinterläufe nicht mehr bewegen, fühlte wohl auch starke Schmerzen. Ich fuhr an einem Samstag mit ihr zum Berthold Mettler nach Daun. Es war nichts mehr zu machen, das Zauberwort hieß T 62, ein starkes Barbiturat, das augenblicklich zum Blackout führt.
Sie hat nichts gespürt, oder wenigstens machte das so den Anschein. Wahrscheinlich hockt sie jetzt auf der Wolke Sieben im Katzenhimmel und grinst über mich, weil ich trauere. Sie hatte so eine unnachahmliche Art, sich quer über das Telefon zu legen oder diagonal über die Tastatur der Schreibmaschine, sie war so unnachahmlich arrogant.
Momo ist mir geblieben, der fuchsige Kater, der nach acht Monaten satte fünf Kilo wiegt und den Kopf eines kleinen Löwen hat. Zuweilen rennt er gehetzt durch das Haus auf der Suche nach Krümel, und es hat den Anschein, als trauere auch er. Wahrscheinlich ist das Theater, wahrscheinlich hat er nur ausgerechnet, um wieviel sein Anteil am Fressen steigt. Wenn ich ihm einen Napf voll erstklassiger Katzenkonserve hinstelle, frißt er den im Handumdrehen leer, wendet sich mir mit großen Bernsteinaugen zu und maunzt sich mit weit offenem Maul das Hungerelend aus der Katzenseele. Nach etwa fünf Minuten geht er dann genußvoll kacken, kehrt zurück, dreht und wendet sich, als wolle er sagen: »Guck mal, wie schlank der Hunger macht!« – und maunzt weiter. Er gehört zu den Kreaturen, die ich gelegentlich gerne strangulieren würde, aber wenn er den Haß in meinen Augen sieht, verschwindet er.
Das dritte Familienmitglied ist Paul. Paul ist ein graugetigertes Wesen, das ein paar Wochen alt und vater- und mutterlos irgendwo im Dorf aufgefunden worden ist. Wahrscheinlich hat jemand gesagt: »Frag mal bei diesem Baumeister nach«, und so stand eine verlegene Zwölfjährige vor der Tür, die stockend erklärte: »Also, jemand meinte, daß Sie vielleicht die Katze nehmen...«
Ich nahm sie, ich hob ihr den Schwanz, ich taufte sie Paul, und dann war Momo da, der der Konkurrenz die erste Tracht Prügel verabreichte.
Nach etwa 24 Stunden drehte sich der Spieß um, weil Paul als der wesentlich Jüngere blitzschnell herausgefunden hatte, wie er Momo um die Katzenpfote wickeln konnte. Man neigt elegant das Köpfchen bis auf den Boden und bietet den Bauch. Das wird sofort zum Ritual: Wann immer sich Momo oder Baumeister nähern, fällt Paul mit der Geschwindigkeit eines Infanteristen im Gefecht zu Boden und mimt toten Mann. Umgekehrt hat er in Zeiten jugendlichen Übermutes herausgefunden, daß Jeans an menschlichen Beinen hervorragende Kratzbäume sind. Er springt locker aus einer Entfernung von einem Meter an den Oberschenkel und nagelt sich fest. Baumeister wimmert, hat aber Disziplin genug, nicht sofort nach dem Hackebeilchen zu greifen.
Also Momo und Paul. Meine Katzenwelt ist wieder in Ordnung, und wenn ich beobachte, wie Momo Paul beibringt, die Zahl der heimischen Mäuse zu dezimieren, wird mir warm ums Herz.
Momo weckte mich an jenem Morgen gegen sechs Uhr, legte eine nicht ganz tote Maus neben den Wecker und knurrte dann wild, weil Paul hinter ihm auftauchte und die Maus für sich beanspruchte. Wenn Katzen sich prügeln, ist die Nacht grundsätzlich zu Ende. Momo hatte das Schwanzende der Maus im Maul und Paul den zierlichen grauen Kopf. Vor dem Frühstück ist mir so viel Natur einfach zuwider. Ich brüllte also: »Raus!« und sprang auf. Das hatte zur Folge, daß ich mit einer geköpften Maus allein blieb, schlecht gelaunt war und überlegte, ob das Landleben wirklich so schön ist, wie ich immer zu behaupten pflege.
Es war ein Montag, die Eifel explodierte in den wildesten Herbstfarben, der Indian Summer in Vermont ist dagegen ein matter Abklatsch. Über den Hügeln drückte sich behutsam der Nebel, und die Sonne lag noch im Schlaf. Die Katzen erschienen wieder und rieben sich an meinen Beinen, weil ich der Herr des Dosenöffners bin. Paul schnurrte, und Momo behauptete wieder, in den letzten Zügen zu liegen. Katzen können ekelhaft sein.
Ich machte mir einen Pulverkaffee von der Sorte Zementmixer, hockte mich an den kleinen Küchentisch und starrte in den Garten. Ich sah zu, wie mein Hausmaulwurf mitten im frisch gemähten Rasen langsam und stetig einen wunderschönen Hügel hochschob und wie die Amsel die ganze Sache neugierig mit schief gehaltenem Kopf beobachtete und dabei von fetten Regenwürmern träumte. Landleben ist aufregend.
Gegen sieben Uhr schellte das Telefon, und ich dachte, das sei ein Irrtum. Das Klingeln hörte auf. Dann begann es wieder. Viermal. Dann hörte es auf. Beim dritten Mal griff ich verwegen zu. »Baumeister hier.«
»Ja, ja«, sagte Erwin. Dann machte er eine Pause. Seine Sprechweise besteht im wesentlichen aus Pausen. »Also, ich muß dich mal anrufen.«
Ich sah sein rotes, lebenslustiges Gesicht, seine Augen in den Unmengen streng parallel laufender Lachfalten. »Erwin, guten Morgen. Was ist denn?«
»Ist ja noch sehr früh«, meinte er bedachtsam.
»Es ist sehr früh«, bestätigte ich.
»Es ist nämlich so«, sagte er. »Ich denke, ich muß mal anrufen, weil du ja Ahnung von diesen Dingen hast. Also, von so Sachen.«
»Von welchen Sachen, Erwin?« fragte ich. Ich bemühte mich, ebenso langsam zu sprechen.
»Von solchen Kriminalitätssachen«, erklärte er.
»Was für Kriminalität?« fragte ich. Ich sah, wie er sich in den eisgrauen Haaren kraulte.
»Na ja, alles, was mit Mord und Totschlag zu tun hat«, murmelte er. »Ich dachte also, ich ruf dich mal an. Habe ich dich aus dem Bett geholt?«
»Nicht die Spur. Was für ein Totschlag denn, und was für ein Mord?«
»Na ja, weiß ich doch nicht«, sagte er. »Ich bin auf dem Golfplatz, Loch sechzehn, du weißt schon.«
»Ich weiß gar nix, Erwin«, erwiderte ich in slow motion. »Wieso auf dem Golfplatz um diese Zeit? Und wieso telefonierst du mit mir?«
»Na ja.« Ich konnte sehen, wie er sich wiederum den Kopf kratzte, und diesmal grinste er wohl auch. »Wenn wir hier arbeiten, haben wir ein Handy, vom Verein. So ein Telefon ohne Schnur, du weißt schon. Wir müssen ja immer im Clubhaus anrufen können, wenn irgendwas ist, also, wenn irgendwo was am Platz nicht in Ordnung ist, also, wir wollen mal sagen, wenn...«
Ich mag Erwin aufrichtig, aber je komplizierter der Alltag wird, um so länger braucht er, das in Worte zu fassen. Ich trällerte also: »Erwin-Schätzchen, warum rufst du an? Was ist passiert?«
»Das weiß ich eben nicht«, gab er zu. »Also, ich kann mir keinen Reim drauf machen. Eigentlich müßte ich ja den Clubvorstand anrufen oder den Geschäftsführer. Aber wenn ich die jetzt anrufe, kann ich meine Papiere abholen und bin arbeitslos, und da dachte ich...«
»Erwin-Schätzchen, nun mach mal langsam«, beruhigte ich ihn. »Irgendwas ist passiert, aber was? Also, ich denke mal, du sitzt auf einem kleinen Traktor oder sowas. Um dich herum ist ein bißchen Nebel, der Tau glitzert im Gras, alles ist friedlich, und du bist dabei, den Rasen zu mähen...«
»Nein, nein, ich kehre den Rasen, ich habe den großen Rasenkehrer unterm Arsch. Ich komme von Loch fünfzehn – du weißt schon, die lange Bahn – auf die sechzehn. Und die macht ja eine Kurve. So um die Waldnase rum, weißt du ja. Und in dem Knick... na ja, ich denke also: Ich rufe den Siggi an.« Er schnaufte.
»Erwin«, flüsterte ich behutsam, »was siehst du denn?«
»Es sind zwei«, sagte er. »Ein Mann, eine Frau. Also, der Mann ist so ein Junger und die Frau so eine blonde Junge. Jedenfalls, die liegen da und sind irgendwie tot.«
»Was heißt irgendwie, Erwin?«
»Ich faß die nicht an. Ich doch nicht! Hinterher heißt es, ich hab was falsch gemacht. Also, ich dachte, ich ruf dich an.«
»Beweg dich nicht, bis ich komme. Tu keinen Schritt. Telefonier auch nicht mehr, mach gar nichts. Ich bin schon unterwegs. Loch sechzehn? Verdammt noch mal, wo ist das?«
»Du fährst also die Straße durch den Golfplatz, dann kommst du auf die Bundesstraße. Einfach überqueren bis zum Zaun. Da mußt du rüber, ich habe keinen Schlüssel. Dann hältst du dich rechts den Hügel rauf, gleich dahinter. Was mache ich, wenn die doch noch leben?«
»Oh Scheiße!« sagte ich erstickt.
Ich rannte auf den Hof in die Garage und fuhr los. Normalerweise habe ich mit meiner Garage keine Schwierigkeiten, aber diesmal gab es so ein merkwürdig knirschendes Geräusch, das in ein gellendes Kreischen überging, weil die rechte Tür meines wackeren Gefährts offen stand. Ich bremste, stieg aus und trat die Tür in die richtige Position. Diesmal blieb sie geschlossen, hatte allerdings eine kräftige Falte und eine erheblich bemerkbare Schieflage. Menschenwerk ist alles Tand.
Der Tag hatte noch nicht begonnen, das Dorf war still, aus den Schornsteinen kräuselte Rauch und gab den Dächern das Aussehen von Spielzeug. Als ich die Kölner Straße hochzog, querte ein Habicht schnell wie ein Geschoß meinen Weg und fegte mit einem hellen Schrei hinter die Haselbüsche. Wen auch immer es traf, requiescat in pace. Im Osten bekam der grünblaue Himmel einen rosafarbenen Schimmer, links in den beiden Pappeln räkelten sich Krähen. Dann das Golfclubhaus mit den roten Dächern, die sich in eine Senke duckten, rechts Alwins großer Teich, seine Herde Böcke und Rehe, dann der Fischweiher, die Bundesstraße. Ich schoß geradeaus über die graue Asphaltbahn in den Wald. Endlich zog ich rechts ran, ließ mir kaum Zeit, den Schlüssel zu drehen, und kletterte über den Zaun.
Ich rannte mit kurzen Schritten die Wiese hinauf und war erstaunt, daß ich das mühelos schaffte, obwohl ich in der letzten Zeit ziemlich viel rauchte. Die Szene war komisch, denn ich sah nur Erwin auf seinem Rasenbesen hocken, der so aussah wie ein teures Kinderspielzeug. Der Motor lief nicht, Erwin hockte in dem Luxussitz mit dem Rücken zu mir und bewegte sich nicht. Er zeigte einfach geradeaus.
»Da sind sie. Die leben nicht mehr, also, wenn du mich fragst, leben die wirklich nicht mehr.«
Ich blieb neben seinem Rasenbesen stehen. »Wie nah warst du dran?«
»Also, ich habe die gesehen, dann habe ich die Karre stehenlassen und bin rangegangen. Du siehst ja, die Frau liegt mit dem Gesicht hierher. Ziemlich blaß, also weiß, würde ich sagen. Siehst du den Mann, der dahinter liegt? Ich bin sofort umgekehrt und habe das Handy genommen und dich angerufen. Sie bewegen sich nicht. Und jetzt?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich.
Die beiden Menschen lagen in zwanzig Metern Entfernung. Es hatte den Anschein, als habe eine furchtbare Gewalt sie einfach zu Boden geworfen und jede weitere Bewegung blockiert.
»Also, unten rum ist sie nackt«, murmelte Erwin.
»Wie bitte?«
»Also, sie ist unten rum nackt. Also, das kannst du von hier nicht genau sehen, weil sie ja das Knie so komisch angewinkelt hat.« Er schnaufte, weil ich so schwer von Begriff war. »Also, du weißt doch, wie Frauen unten rum aussehen. Die meisten Frauen, die hier spielen, tragen ja auch Hosen, also lange Hosen. Die Frau da vorne trägt einen Rock..., also, sie hat keine Buxe an.«
»Wie lange bist du jetzt hier?«
Er sah auf die Uhr. »Genau sechzehn Minuten. Und sie rühren sich nicht. Kein Muckser, jedenfalls habe ich nichts gesehen.«
»Lauf mal runter zu meinem Auto. Im Handschuhfach ist eine Kamera. Kennst du die eigentlich?«
Erwin nickte. »Also, er ist Banker oder sowas. Und sie macht irgendwas mit Hotel. Sie sind verheiratet, das weiß ich. Aber nicht miteinander. Also, er hat eine zierliche, dunkelhaarige Frau. Kinder hat er auch. Und sie hat einen Mann, der... Moment mal, jetzt weiß ich es wieder... also, der Mann von ihr ist Schreiner oder sowas. Hat einen eigenen Betrieb...«
»Das ist jetzt nicht so wichtig. Was erzählen die Leute im Club?«
»Das weiß ich nicht. Die bezahlen mich, aber sie reden nicht mit mir.«
»Galten sie als ein Liebespaar?«
»Also, das weiß ich wirklich nicht. Ich gehe jetzt mal den Fotoapparat holen. Aber ich weiß nicht, ob du hier fotografieren darfst. Ist ja Clubgelände.« Er kratzte sich wieder in den Haaren. Er war blaß, es ging ihm gar nicht gut.
»Ich sage den Bullen, daß ich fotografiert habe«, beruhigte ich ihn. »Und komm schnell wieder. Bist du um sie herumgegangen?«
Er schüttelte, den Kopf. »Nein. Kannst du auch im Gras sehen. Ungefähr bis fünf Meter ran. Ich habe nur geguckt. Dann bin ich in meiner eigenen Spur zurück.«
»Sehr gut«, sagte ich.
Erwin kletterte von der Maschine. Ich ging langsam auf die Leichen zu.
Beide trugen nicht die typische Golfkleidung, die sich im wesentlichen durch ungeheure Schlabbrigkeit und ebenso ungeheure Preise auszeichnet.
Von mir aus gesehen, befand sich der Mann leicht seitlich rechts hinter der Frau. Er lag auf der Seite mit dem Rücken zu mir. Er trug ganz normale Sommerhalbschuhe, ganz normale neuwertige Jeans, ein ganz normales kariertes Baumwollhemd, rot-schwarz, mit langen, halb aufgerollten Ärmeln. Er hatte dunkle, sehr dichte, ordentlich geschnittene Haare. Unterhalb des Haaransatzes klaffte ein rundes, blutiges Loch. Es sah aus wie eine Einschußwunde.
Ich schlug mit weiten Schritten einen Halbkreis, wobei ich sehr genau darauf achtete, nichts im Gras zu übersehen. Aber dort war nichts. Ich ging so weit, daß ich dem Mann ins Gesicht sehen konnte. Das Gesicht war sehr weiß und wirkte ausgeblutet, die Augen weit auf. Vielleicht war er dreißig oder fünfunddreißig Jahre alt, sicher nicht älter. Er war sorgfältig rasiert. Unterhalb seines Kinns hatte sich der Hemdkragen hochgeschoben und war total verkrustet. Das Blut war rabenschwarz und glänzte trocken. Merkwürdig war, daß er beide Arme sehr weit vor dem Körper hielt und daß alle zehn Finger weit auseinander gespreizt standen.
Ich kniete mich nieder und legte die letzten Zentimeter in der Hocke zurück. Ich faßte einen der Finger an. Die Totenstarre hatte eingesetzt.
»Hier ist dein Fotoapparat«, sagte Erwin.
»Komm her, aber geh in meiner Spur.«
Er näherte sich vorsichtig. »Und wen rufen wir jetzt an?«
»Langsam, der Reihe nach«, meinte ich. Ich fotografierte das Gesicht des Toten, den ganzen Mann, ging um ihn herum, das Loch im Genick. »Du rufst jetzt die Bullen in Daun über Handy. Die sagen dann der Mordkommission Bescheid.« Ich drehte mich zu der Frau um.
Sie war hübsch, sie war sogar ausgesprochen hübsch, wenngleich der Tod ihr Gesicht verzerrt hatte. Sie trug einen leichten Sommerpulli in Schwarz über einem sandfarbenen Rock. Der Rock war über dem linken Bein hochgerutscht. Es war, wie Erwin erzählt hatte, darunter war sie nackt. Sie trug leichte blaue Sommerslipper aus dünnem Wildleder. Ich faßte sie vorsichtig am Kinn, dann sah ich das Loch über dem rechten Ohr.
»Das kannst du nicht machen«, sagte Erwin.
»Was kann ich nicht machen?«
»Die anfassen«, präzisierte er unwillig.
»Sie ist steif, sie liegt seit Stunden tot. Sie ist über dem rechten Ohr in den Kopf getroffen worden. Ruf die Polizei.«
»Machst du das nicht besser? Ich meine, du hast doch Erfahrung mit den Bullen. Und wenn das ihr Mann war? Ich meine, wenn die was hatten und ihr Mann ist dahintergekommen...?«
»Gib mir das Handy, wir brauchen die Bullen jetzt.«
»Und mein Vorstand oder der Geschäftsführer?«
»Die rufst du dann an.«
Ich tippte die Dauner Nummer, und jemand meldete sich gelassen: »Polizei.«
»Ich brauche Ihre Hilfe. Auf dem Golfplatz in Berndorf liegen zwei Leichen. Erschossen. Ein Mann und eine Frau.«
Eine Weile sagte er nichts. »Wer sind Sie denn?«
»Baumeister, Siggi.«
»Der?«
»Genau der. Also, was ist?«
»Ich schicke wen«, versprach der Bulle. Ehe er auflegte, brüllte er noch: »So eine Scheiße!«
Ich reichte Erwin das Handy. »Jetzt zieh mal den Rock etwas höher«, bat ich.
»Bist du verrückt?« Er konnte es nicht fassen.
»Ich will das fotografieren«, sagte ich. »Nimm den Zipfel da, und heb den Rock hoch.«
»Aber die ist nackt.«
»Eben deswegen«, bekannte ich. »Glaubst du vielleicht, ich gehe hier meinen abartigen Neigungen nach?«
»Aber wieso denn?« Er war verwirrt.
»Es ist ganz einfach«, erklärte ich. »Wenn die beiden unterwegs auf dem Golfplatz waren, um eine Runde zu spielen, wenn die Frau dabei keinen Slip trug, dann wollten sie vermutlich mal kurz in die Büsche. Ist doch menschlich, oder?«
»Kann schon sein«, murmelte er und guckte irgendwohin.
»Na gut. Jetzt blitze ich aus rund dreißig Zentimetern Entfernung unter den Rock. Weil ich dann vielleicht sehen kann, ob sie etwas miteinander hatten.«
»Ach, so ist das?«
»So ist das«, nickte ich. »Heb also mal den Rock hoch.«
Er hob den Rock hoch. »Ist ja kriminalistisch«, murmelte er. »Das weiß man ja nicht als einfacher Angestellter. Also, du kannst sehen... Darfst du sowas?«
»Natürlich nur, wenn ich nicht frage«, sagte ich. Dann drehte ich mich um und stand auf. Ich fotografierte vom Platz der Toten aus die ganze Runde.
»Erklär mir mal diese Bahn. Wie wird sie gespielt?«
Jetzt war Erwin in seinem Element. »Sie ist ziemlich zickig, die sechzehn. Also, du spielst da hinten an, zweihundert Meter ungefähr. Du mußt den Ball in diesen Knick spielen. Du kannst nicht direkt aufs Grün spielen, weil du das vom Abschlag nicht sehen kannst. Die Bahn wird halbiert gespielt. Also: erst hierhin. Du mußt verdammt gut plazieren. Wenn du nur zehn Meter zu weit spielst, landest du da vorne zwischen den Tannen. Da kommst du nicht mehr raus, dann ist over. Du mußt in diesen Knick. Und dann mußt du aus diesem Knick die nächsten hundertzwanzig Meter durch die schmale Schneise aufs Grün. Anders geht es nicht. Wer hier mit drei Schlägen durchkommt, schafft den Volvo-Cup oder sonstwas. Anfänger können gleich ein Zelt mitbringen. Die sechzehn hat's in sich, Mann. Da fällt mir auf, wo sind denn deren... wo sind die Schlägertaschen? Ich meine... Die haben doch Golf gespielt. Moment mal, da hinten, da hinten am Abschlag...«
»Fahr hin, aber rühr nichts an«, sagte ich. Ich ging fünf Meter zurück und fotografierte die Szene. »Scheiß Liebe«, murmelte ich.
Ich sah, wie Erwin zum Abschlagplatz fuhr, dann drehte und sofort wieder zurückkam. »Beide Taschen sind da, beide am Abschlag. Ein Schläger liegt daneben. Damenschläger. Wo ist denn...?« Er schaltete den Motor aus und näherte sich dem toten Mann. Dann sah er zum Abschlagplatz und ging los. Nach zehn Schritten rief er: »Hier ist das Eisen. Er hat es hier hingelegt. Warum hat er es da liegenlassen?«
»Weil er getroffen wurde, weil er es dabei verlor. Dann ging er noch ein paar Schritte, dann war es aus.«
Erwin kratzte sich am Kopf. »Kann sein, kann sein. Ich rufe jetzt den Geschäftsführer an. Der wird mich fragen, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe.«
»Wird er nicht«, beruhigte ich. »Er wird dir sagen, du hättest schnell und umsichtig gehandelt. Und erst dann wird er aus dem Bett fallen.«
»Na ja«, murmelte er pessimistisch.
Ich hörte, wie er die Nummer eintippte, ich hörte, wie er betulich sagte: »Also Chef, ich weiß, es ist ja ein bißchen früh am Tag, aber ich meine mal, Sie müßten was davon wissen...«
Er redete noch eine Weile weiter, klappte dann das Gerät zu und erklärte grinsend: »Er hat gesagt, ich hätte schnell und umsichtig gehandelt. Und ich habe ihm nicht gesagt, daß du hier bist.«
»Also gestern abend«, überlegte ich. »Sonntag abend. Gibt es hier eine Regel, bis wann gespielt wird?«
Erwin schüttelte den Kopf. »Keine Regel. Solange das Licht noch gut ist, also bis in die Puppen. Zeigst du mir die Fotos mal? Ich meine, auch die unterm Rock? Mich würde das interessieren.«
»Na sicher, wenn dein Vater es erlaubt.«
»Ich bin fuffzich«, grinste er.
»Trotzdem«, murmelte ich. »Können in diesem Club zwei Leute eine Liebesbeziehung haben, von der niemand weiß?«
Er schüttelte den Kopf. »Das ist nicht möglich«, sagte er entschieden. »Was war das für ein Kaliber?«
»Zimmerflak. Mindestens neun Millimeter.« Ich stopfte mir die Jahrespfeife von Butz-Choquin, Erwin zündete sich eine Zigarette an.
So standen wir da in geziemendem Abstand von den beiden Toten, schwatzten miteinander und bemühten uns, nicht dauernd hinzusehen.
»Kannste mal sehen, was so ein Golfclub alles mit sich bringt«, seufzte er. »Wo hat wohl der Schütze gestanden?«
»Hinter den Weißtannen da vorn. War ziemlich einfach.«
Er spitzte die Lippen. »Eigentlich ist es nicht so einfach«, widersprach er. »Du mußt den Platz verdammt gut kennen, du mußt wissen, daß die beiden auf dem Platz sind, du mußt ungefähr wissen, wann sie hier ankommen.«
»Wie komme ich denn hinter die Tannen da vorne, wenn ich den Golfplatz nicht betreten will?«
»Das ist einfach. Du kannst in Wiesbaum in den Wald fahren, drei Kilometer durch den Wald. Dasselbe aus Richtung Hillesheim. Wenn du ganz raffiniert bist, kannst du schon zwischen Birgel und Hillesheim nach links in die Wälder abbiegen. Dann hast du gut sechs, sieben Kilometer Waldwege. Da ist kein Mensch. Aber dann mußt du wirklich raffiniert sein.«
»Der hier war raffiniert, der war garantiert sehr raffiniert.«
»Irgendwann werden die doch alle erwischt«, meinte Erwin hoffnungslos naiv.
»Es kommt darauf an, wie gut du dich vorbereitest«, sagte ich weise. »Sieh an, da kommen die Ordnungshüter.«
Zuerst sah man nur ihre Uniformmützen. Sie umrundeten den Hügel und näherten sich schnell. Sie nickten und sagten im Chor: »Guten Morgen.«
»Guten Morgen. Da liegen die beiden«, grüßte ich.
»Waren Sie dran?« fragte der Ältere.
»Nicht richtig. Wir mußten feststellen, ob sie tot sind oder nicht.«
»Das ist richtig. Haben wir Ihre Angaben zur Person?«
»Können Sie haben«, sagte ich.
»Und Sie dürfen den Platz hier nicht verlassen, bis die Kommission eintrifft.«
»Wann kommt die denn?« fragte Erwin. »Ich muß die Kühe melken.«
»Das wissen wir nicht. Sie müssen hierbleiben.«
An diesem Punkt ist Erwin sein Leben lang pingelig gewesen. Er warf den Kopf hoch und röhrte: »Nä, geht nicht. Melken ist melken. Ihr könnt euch Zeit lassen, aber ich nicht. Ich muß melken und dann wieder hier auf den Platz.«
Sie stritten eine Weile, bis Erwin entschied: »Also, ich gehe melken, ich bringe euch einen Schnaps mit, und ihr sagt nicht, daß ich melken war.«
Das war ein Vorschlag, auf den sie sich einließen. Erwin setzte sich auf seinen Besen und zog davon.
Die beiden Beamten näherten sich den Leichen bis auf etwa fünf Meter und betrachteten sie. Dann sagte der Ältere: »Wir sperren erstmal ab. Irgendwas müssen wir ja tun.« Er schob elegant seine Mütze nach vorn, der Schirm rutschte über die Augen, und er hob den Kopf: »Soweit ich weiß, müssen die doch mit einem Auto gekommen sein. Wo ist das Auto?«
»Wahrscheinlich auf dem Parkplatz am Clubhaus«, antwortete der Jüngere.
»Feststellen und einziehen. Nicht, daß irgendwer sich reinsetzt und abhaut.«
»Wer sind denn die beiden?« fragte ich.
»Golfspieler«, sagte der Jüngere. Wahrscheinlich mochte er mich nicht.
»Mein lieber Mann!« schnaufte der Ältere und starrte die tote Frau an. »Die hat ja Nahkampfposition.«
»Also, wer sind sie?« fragte ich erneut.
»Der Mann ist von der Sparkasse«, gab der Ältere sein Wissen preis. »Die Frau kenne ich nur vom Sehen. Aus Daun, aus Stadtkyll oder Jünkerath? Ich glaube, sie heißt Kutschera oder so.« Er grinste flüchtig. »Man sagt, sie hatte was mit dem Banker.«
»Wer ist man?«
»Na ja, was die Leute so reden. Haben Sie etwa fotografiert?«
»Nicht die Spur«, verneinte ich.
Es wirkte komisch: Die Uniformierten schlugen kleine eiserne Stäbe rund um die beiden Toten in den Boden und bildeten mit einer Plastikschlange, weiß-rot gestreift, einen Ring von etwa fünf Metern Durchmesser. Der Ring hatte eine scharfe Delle – ungefähr an der Stelle, wo man der Frau unter den Rock sehen konnte. Der Jüngere brauchte eine Viertelstunde, um die Delle auszubügeln. Er machte das schwer atmend mit einer rosafarbenen Zungenspitze, die ihm unterhalb des martialischen Schnäuzers aus dem Mund ragte. Ich kann wirklich begreifen, daß Polizisten ihre schlechte Bezahlung anmahnen, aber ich kann auch die begreifen, die schlicht behaupten, Polizisten seien viel zu gut bezahlt.
Plötzlich kam ein baumlanger Mann über den Hügel. Er rannte, und während er rannte, keuchte er: »Das haben wir gleich, das haben wir gleich!« Dann sah er die Polizisten und mich und sagte: »Ich hoffe nicht, daß es irgendwelche Schwierigkeiten gibt.«
Der ältere Beamte legte etwas Eiflerisches hin. Er bemerkte: »Das ist eine Definitionsfrage. Bleiben Sie stehen, gehen Sie nicht weiter. Wer sind Sie?«
»Der Geschäftsführer«, antwortete der Geschäftsführer. »Mein Name ist Dell, Ferdinand Dell. Hier soll etwas passiert sein.«
»Das ist richtig«, nickte der ältere Beamte freundlich. »Sehen Sie sich diese beiden Toten dort vorne einmal an. Kennen Sie die?«
Der Mann namens Dell beugte sich vor und murmelte: »Ja, schon. Wir haben da Frau Heidelinde Kutschera und Herrn Pierre Kinn, beide das gleiche Handicap, beide im Mittelfeld, clubmäßig. Aber sonst weiß ich nichts.«
Der ältere Beamte entgegnete freundlich: »Sonst habe ich ja auch noch nichts gefragt.«
»Sicher Selbstmord«, vermutete der Mann namens Dell beruhigend.
»Das weniger«, widersprach der jüngere Beamte. »Beide mit Einschüssen.«
»Aber sicher bald aufzuklären«, sagte Dell bittend. »Sicher hat irgendwer die hierhin gepackt.« Er war beleidigt.
Der ältere Beamte sah ihn an. »Das glaube ich nicht, mein Guter. Und nun rennen Sie mal in Ihren Club. Ich will die genauen Personalangaben der Toten haben. Und zwar alles: Kinder, warum und wieviele, mit wem verheiratet, seit wann, finanzielle Verhältnisse und, wenn möglich, die Farbe der Unterwäsche – falls sie welche tragen. Ist das klar?« Er war wirklich gut.
Ferdinand Dell wollte widersprechen, begriff dann aber, daß das möglicherweise für seinen Golfclub Folgen haben könnte. Daher nickte er knapp und verschwand im Sturmschritt über den Hügel.
Der jüngere Beamte schnaufte: »Arschloch!«
So ging die Zeit dahin. Die Sonne war freundlich und legte wilde Farbkleckse in die herbstlich glühenden Bäume.
Gegen neun Uhr kam Erwin wieder auf seinem Rasenbesen angefahren und brüllte: »Sie sind schon da, sie kommen durch das Gatter!« Im gleichen Moment kamen sechs Männer im dichten Trupp aus der Richtung, aus der auch ich gekommen war. Hinter ihnen holperte ein Anderthalbtonner-Mercedes. Die Mordkommission war eingetroffen.
Mit Mordkommissionen habe ich so meine Erfahrungen, zumal mit denen, die von leibhaftigen karrieresüchtigen Staatsanwälten befohlen werden. Aber es war kein Staatsanwalt dabei, und deshalb benahmen sich die sechs äußerst diszipliniert. Der Mann, der das Team leitete, war klein, kugelig, rundgesichtig, spröde und sachlich. Er sah erst die Beamten an, dann mich und erklärte: »Guten Morgen. Räumen Sie bitte mal diesen blöden Plastikstreifen da weg. Bewegen Sie sich vorsichtig. Johnny, du gehst in das Clubhaus. Sämtliche Informationen über die Toten. Ich will keinen Menschen hier sehen, nicht mal den Präsidenten von diesem Verein hier. Keinerlei Auskünfte. Klaus, du nimmst die Temperatur der Toten. Und zwar die von oben, aber auch die von Körperteilen, die den Rasen berühren. Falls es geht, brauche ich die Rektaltemperatur. Zumindest bei der Frau wird das möglich sein. Die Körperlage nicht verändern. Werner, du fotografierst, was du sehen kannst, ohne die Leichen zu bewegen, besonders die Wunden. – Baumeister? Sie sind doch der Baumeister, oder?«
»Bin ich«, bestätigte ich.
»Gut, mein Name ist Wiedemann. Erzählen Sie mal, wie Sie hierher gekommen sind und was Sie bisher unternommen haben. Und sagen Sie nicht, Sie hätten nicht fotografiert. Rodenstock hat erzählt, Sie haben alles längst getan, wenn andere es Ihnen verbieten wollen.«
»Ich habe fotografiert, besonders die Frau. Ich vermute Sperma.«
Wiedemann nickte, es machte ihm anscheinend nichts aus, einem Laien recht zu geben. »Sonst noch etwas?«
»Ja. Weit vorgeschrittene Totenstarre. Ich vermute, es passierte gestern abend. Wenn eine Stelle auf dem Platz ideal für einen Mord ist, dann diese.« Ich wies auf die Toten. »Die beiden kamen auf den Täter zu, und sie sahen ihn nicht, wenn er dort hinter den Tannen stand. Und er hatte massenhaft Zeit. Teuflisch gut.«
Der Beamte dachte darüber nach und nickte wieder. Dann drehte er sich um. »Wolf, du gehst an den Abschlag der Bahn. Dann gehst du den Weg. Du hast eine Stunde Zeit. Ich will wissen, wie sie sich bewegten, wo sie getroffen wurden.«
Der Mann, den er Wolf nannte, war ein älterer Mann, der ihn nur ansah und sich dann entfernte.
Wiedemann erläuterte: »Wolf ist ein Spezialist. Er wird uns am Ende sagen können, ob die Toten Blähungen hatten und bei welcher Wegmarke sie furzten.«
Dann kam er auf mich zu und setzte sich neben mich ins Gras. »Das ist wirklich ein eiskaltes Ding«, murmelte er. »Wie geht es Rodenstock?«
»Ich weiß es nicht, ich habe lange nichts mehr gehört«, sagte ich.
Er grinste mich von der Seite an. »Holen Sie ihn her«, meinte er. »Der alte Mann wird hier gebraucht. Wissen Sie, was mir Sorgen macht?«
»Ja«, nickte ich, »die Einschußkanäle. Beim Mann im Nacken.«
Wiedemann schüttelte sanft den Kopf, sah mich aber nicht an. »Das wäre zu einfach. Das Loch im Nacken des Mannes ist kein Einschuß. Es ist ein Ausschuß, mein Lieber. Daran gemessen hat der Mörder schlicht und ergreifend eine Waffe benutzt, die mindestens mit dem Kaliber zehn Millimeter arbeitet. Haben Sie auch die Wunde über dem rechten Ohr der Frau gesehen? Genau gesehen? Einschuß? – Quatsch, Ausschuß! Der Einschuß liegt oberhalb des linken Ohres. Mit anderen Worten: glatter Schädeldurchschuß. Also, holen Sie Rodenstock. Wissen Sie, warum?«
»Weil Sie ihn mögen«, vermutete ich. »Ich mag ihn ja auch.«
Er lächelte leicht. »Weil Rodenstock ein Spezialist für merkwürdige Tötungsarten ist. Wußten Sie das nicht?«
»Das wußte ich nicht«, gab ich zu.
»Sie können natürlich verschwinden«, ergänzte er gutmütig. »Wenn ich Sie brauche, werde ich Sie finden.«
»Im Dorf, neben der uralten großen Linde«, sagte ich. »Das riecht nach einem deutschen Melodram.«
»Liebe und so?«
»Liebe und so. Hier wird erzählt, die beiden hatten was miteinander.«
»Hm, und wenn wir die jeweiligen Partner kassieren?«
»Ich würde das sofort tun«, stimmte ich zu.
Wiedemann überlegte und sagte dann laut zu den beiden Uniformierten: »Sammeln Sie mal sanft die beiden jeweiligen Ehepartner ein. Nach Daun auf die Station bringen, ganz sanft verhören, ganz sanft fragen, nichts von Alibi wissen wollen. Aber bitte darauf achten, ob sie eins haben. Auf keinen Fall dulden, daß sie an den Tatort kommen. Sagen Sie ihnen, die Freigabe der Leichen erfolgt frühestens in etwa fünf Tagen. Benehmt euch so salbungsvoll wie ein Bestattungsunternehmer. Wissen Sie, ob in diesem Golfclub irgendein Zoff herrscht?« fragte er mich.
»Das weiß ich nicht. Ich verstehe sowieso nicht, wieso jemand, nur weil er Spazierengehen will, einen Haufen eiserner Schläger mit sich rumschleppt und auf einen kleinen weißen Plastikball eindrischt.«
»Menschen sind so«, meinte Wiedemann. »Scheiße, ich habe Karten für ein Konzert von AI di Meola heute abend in Trier.«
»Ich auch«, seufzte ich. »Statt dessen hangeln wir uns hier durch die Bäume.«
»Sie können doch fahren«, sagte er gutmütig.
»Will ich nicht. Meola spielt eine gute Gitarre, aber diese Toten sind irgendwie spannender. Oder auch nicht.«
»Der Tatort paßt mir nicht. Golfclubs sind sehr elitär und sehr diskret. Wieso gibt es hier einen Golfclub?«
»Es geht die Sage, daß ein paar Jäger die Idee hatten. Ihnen war stinklangweilig, bevor sie abends und morgens auf die Hochsitze gehen konnten. Weil sie genügend Kleingeld hatten, machten sie den Club auf.«
»Woher kommen die Mitglieder?«
»Köln, Düsseldorf, Aachen, Koblenz, Brüssel, ein bißchen die ganze Welt. Manche haben sich sogar eine Zweitwohnung hier gekauft oder ein altes Bauernhaus umgebaut. Sie haben recht, das wird schwierig. Sind Sie eigentlich ein Lehrling vom alten Rodenstock?«
Er grinste augenblicklich, gluckste vor Heiterkeit. »Oh ja, und was für einer! Der Alte muß streckenweise verrückt gewesen sein. Zuerst war ich nicht mal leichenfest. Ich sah eine Leiche, zum Beispiel eine alte Dame, friedlich im Bett entschlafen... und mir wurde schlecht, ich kriegte das Zittern, ich wußte meinen eigenen Namen nicht mehr. Der Zustand hielt manchmal stundenlang an...«
»Aber der alte Rodenstock hat Sie geheilt.«
»Und wie! Das muß so fast dreißig Jahre her sein. Wir hatten einen unklaren Todesfall. Eine Frau, so um die Vierzig, lag ordentlich zugedeckt im Bett. Rodenstock schickte mich hin. Bleib sitzen, und sieh dich um! sagte er. Ich saß da. Eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden. Dann tauchte Rodenstock grinsend auf und fragte: Woran ist sie gestorben? – Das weiß ich doch nicht, sagte ich empört. Ich sollte hier sitzen und mich umsehen. – Ich seh ihn noch heute, wie er fassungslos den Kopf schüttelt, dann die Decke von der Toten reißt und mich anbrüllt: Guck hin, Junge! – Ich guckte hin, ich sah nichts. – Sanfte Rotstellen am Hals! brüllte er. Noch was? – Also, ich sehe nichts, sagte ich. – Scheide leicht offen! schrie er. Die Frau wurde getötet, nach Beischlaf getötet, klar? – Seitdem habe ich keine Schwierigkeiten mehr.« Er lachte laut. »Alles, was ich weiß, habe ich von ihm. Ich würde mich freuen, ihn zu sehen.«
»Ich hole ihn«, versprach ich.
Ich beobachtete, wie der Mann namens Wolf unendlich langsam die erste Hälfte der Bahn vom Abschlag her abging. Zuweilen kniete er bewegungslos im Gras und sah aus wie ein Opa, der mit dem Enkel Häschen in der Grube spielt. Dann ging er zwei Schritte nach rechts, drei nach links, schräg nach vorn, sah sich um, drehte sich, machte ein paar schnelle Schritte hinter eine niedrige Krüppeleiche und blieb dort volle zehn Minuten.
Wiedemann kommentierte: »Der Mann ist irre, aber leider hat er nicht die richtige Schulbildung. Nur zugelassen für die mittlere Laufbahn. Der schlägt, wenn es um Spuren geht, sogar den ollen Winnetou. Aber niemals käme ein Regierungsrat auf die Idee, den an der Polizeischule unterrichten zu lassen. Scheißapparat! – Sie mögen die Polizei nicht, wie ich hörte.«
»Das ist falsch«, widersprach ich. »Ich mag nur dumme Polizisten nicht.«
Er sah mich an und griente. Dann wurde er unvermittelt ernst. »Wenn das Loch im Hals des Toten von Ihnen als Einschuß gesehen wurde, ich aber sag, es ist ein Ausschuß, können Sie sich dann die Waffe vorstellen?«
»Nein«, sagte ich.
»Ich auch nicht«, nickte er. Er zündete sich einen rabenschwarzen Stumpen an und paffte nachdenklich vor sich hin. Das Ding stank entsetzlich.
Der Mann namens Wolf erreichte die Toten und stellte sich neben sie. Er sah sie an, nahm einen Block aus der Tasche und schrieb etwas auf. Schließlich ging er in die Knie und starrte über die Leichen hinweg in den Wald. Plötzlich bewegte er sich unglaublich schnell, als versuche jemand, vor ihm zu fliehen. Er machte zehn, zwölf Schritte und war hinter den ersten Tannenstämmen verschwunden.
»Chef«, rief jemand seitlich von uns. Es war der Mann, dem Wiedemann befohlen hatte, sich um die Temperatur der Toten zu kümmern. Er wirkte eifrig.
»Also, die Temperatur sagt, sie liegen dort an der Stelle ungefähr vierzehn Stunden, plus minus eine Stunde. Der Einschuß oder Ausschuß im Nacken des Mannes ist komisch, Chef.«
»Wieso komisch?«
»Fettschlieren, würde ich sagen. Aber ganz besonderes Fett. Es sieht so aus wie Margarine.«
»Wie was, bitte?«
»Wie Margarine, Chef.«
»Na gut, du Margarinespezialist. Sonst was Besonderes?«
»Nichts, Chef.« Der Mann ging wieder davon.
Dann trollte Wolf heran und schaute streng auf den Rasen vor seinen Füßen. Er hockte sich neben uns und konzentrierte sich. »Wir haben es mit einer richtig leidenschaftlichen Liebe zu tun, wenn ich mal so sagen darf. Hier ist der Ball, den der Mann gespielt hat. Er lag vom Abschlagplatz aus gesehen ungefähr zwanzig Meter vor den Toten.« Er schnippte den Ball in das Gras, der trudelte ein wenig und blieb liegen. »Es war zwischen 18 und 19 Uhr gestern abend. Ich vermute mal, der Nebel kam nach Mitternacht. Sie betraten diese Bahn, also die sechzehn. Sie waren die letzten auf dieser Bahn, denn spätere Spuren fand ich nicht. Diese Grassorte federt ziemlich schwach. Fünf Meter links vom Abschlagpunkt beginnt ein dichtes Gebüsch von alten Krüppeleichen, das in eine Gruppe Kiefern übergeht. Sie spielten keinen Ball, sondern waren jetzt in einem Bereich, in dem sie von einer anderen Bahn aus nicht mehr gesehen werden konnten. Sie sind dann nebeneinander, und zwar die Frau links von ihm, in das Gebüsch gegangen. Sie haben es dort getan. Dabei ist eindeutig, daß der Mann unten lag...«
»Woher wissen Sie denn das?« fragte ich verblüfft.
»Eindeutig an den Absätzen seiner Schuhe zu erkennen. Diese Absätze haben Einschnitte im Boden unter den Eichen hinterlassen. Ich vermute, der Mann hat einfach die Hosen runtergelassen, sonst nichts. Wo das Höschen der Frau ist, weiß ich nicht. Ich vermute weiter, wir finden es im Auto. Sie sind dann zum Abschlagplatz zurück. Der Mann hat als erster geschlagen und ist losgegangen. Und zwar ging er ziemlich leicht und locker geradeaus. Da fragt sich der Fachmann: Warum ist der losgegangen und hat sich die Tasche mit den Schlägern nicht über die Schulter gehängt, wie Golfer das so tun? Er ließ die Tasche bei der Frau. Warum?«
»Bietest du mir eine Lösung an?« Wiedemann lächelte.
»Wie du weißt, kann ich es nicht lassen. Ich denke, sie wollten die Bahn zwei- oder dreimal spielen. Diese erste Hälfte hier.« Wolf lächelte versonnen. »Sie wollten zurück unter die Eichen, sie wollten es ein zweites Mal haben, vielleicht ein drittes Mal. Weißt du, es wirkt auf mich wie ein Ritual. Aber zurück zum Vorgang. Ich sage, der Mann ging gutgelaunt. Er drehte sich sogar dreimal zu ihr herum. Normalerweise hätte jetzt die Frau abschlagen müssen. Das hat sie aber nicht getan. Irgend etwas passierte mit dem Mann. Ich vermute, er wurde ungefähr zwanzig Meter vor dem Punkt, an dem er jetzt liegt, getroffen. Er strauchelte, fiel, wahrscheinlich schrie er wie am Spieß. Die gespreizten Hände lassen auf große Schmerzen schließen. Die Frau ließ ihren Schläger fallen und rannte los, so schnell sie konnte. Während der Mann rund achtzig bis hundert Meter von ihr entfernt starb, aber noch die Kraft hatte, sich aufzuraffen und vorwärtszustolpern. Das Stolpern konnte ich einwandfrei feststellen. Zuweilen sind seine Abdrücke so scharf, daß man daraus schließen kann, daß er zu fallen drohte, sich verzweifelt aufrecht hielt, sich sozusagen im Boden festkrallte. Währenddessen rannte die Frau wie besessen. Übrigens, sie stolperte auch, ungefähr zwanzig Meter von ihm entfernt. Das muß wie eine wahnsinnige Slow Motion gewesen sein, wenn du mich fragst.«
»Was heißt das?« fragte Wiedemann trocken.
»Normalerweise wird jemand getroffen und getötet. Hier wurde auch jemand getroffen, aber eben nicht sofort getötet. Er starb, während er sich weiterbewegte. Während er starb und sich weiterbewegte, kam die Frau angerannt, panisch vor Angst...«
»Lieber Himmel«, drängte Wiedemann, »nun sag schon, was du meinst.«
»Ich meine, wir haben es mit einem eiskalten Killer zu tun. Siehst du die Weißtannen da? Da stand er, da muß er gestanden haben. Kannst du dir einen Mörder vorstellen, der über einen Zeitraum von rund sechzig Sekunden nach dem ersten Schuß Ruhe bewahrt und dabei darauf wartet, daß eine rennende Frau ihm ein sicheres Ziel bietet?«
»Du willst also sagen, das war geplant. Du willst also sagen, der Mörder ist sozusagen ein As.«
»Richtig«, nickte Wolf. »Der muß ein As sein. Wahrscheinlich ist er ziemlich krank, aber auf jeden Fall hat er eiserne Nerven.«
»Die Waffe macht mich verrückt«, sagte Wiedemann.
Der Mann, der mit den Temperaturmessungen zu tun gehabt hatte, kam heran und hockte sich zu uns. »Es ist Sperma«, berichtete er. »Ich weiß es nicht genau, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit ist es Sperma.«
»Ich habe den Platz gefunden«, nickte Wolf. »Bis auf die Waffe, die wir nicht kennen, ist es eine miese bürgerliche Affäre.«
»Was ist mit der Margarine?« fragte ich.
»Das kann ich nicht beantworten, das muß die Analyse ergeben«, sagte der Spurenmann. »Wenn ich die Wunden genau bedenke, muß es etwas sein, was ein vierkantiges, sehr massives Profil verschießt.«
»Warum nicht gleich ein Blasrohr?« fragte Wiedemann, ärgerlich. Dann reichte er mir ein Handy. »Holen Sie mal den Rodenstock ran? Sagen Sie ihm schönen Gruß vom Knubbel, dann weiß er Bescheid. Wenn er will, schicke ich ihm einen Wagen.«
Ich trollte mich ein paar Meter abseits. Rodenstock war zu Hause und meldete sich, als sei das Leben unerträglich langweilig. Er röhrte unendlich langsam: »Ja, bittähhh?«
»Wir haben einen Doppelmord«, säuselte ich. »Auf dem Golfplatz. Schönen Gruß vom Knubbel. Wir brauchen Sie hier. Sie können einen Wagen haben.«
»Her mit dem Wagen«, krächzte Rodenstock. »Ich bin verrotzt, totale Herbstgrippe, aber her damit. Alles, nur nicht diese Scheißwohnung. Sie schickt der Himmel.«
»Das ist eher unwahrscheinlich«, murmelte ich.
Ich wußte, was jetzt kam. Irgendein Staatsanwalt würde kommen, sich rasch und oberflächlich informieren, eine Pressekonferenz im Augustiner Kloster ansetzen und endlos drauflos schwafeln. Er würde sich gerührt und bewundernd selbst zuhören und ständig betonen: »Ich denke, wir haben gewisse Spuren, können aber aus verständlichen Gründen, Ihnen, meine Damen und Herren, noch nichts sagen. Wir bitten um Ihre Geduld.«
Das gilt für alle Behörden: Immer, wenn sie etwas absolut nicht erklären können, bitten sie um Geduld, als gelte es, irgendwo Reste von Gehirn ausfindig zu machen.
»Ich fahre heim. Ich brauche ein Frühstück, ich brauche meine Katzen.«
»Wir sehen uns«, nickte Wiedemann träge. Er blinzelte in die Sonne. »Ich mag diese Eifel. Sie ist schön.«
Zweites Kapitel
Ich fuhr nicht nach Hause. Nach Frühstück war mir nicht, und eine Erörterung des Falles mit meinen Katzen war nur sehr begrenzt möglich. Wenn jemand – von mir aus mit einem Maschinengewehr – dieses Liebespaar getötet hatte, dann mußte es mehr sein als das Ende eines bürgerlichen Dramas.
Ein eifersüchtiger, der Tobsucht naher Ehemann? Gut, aber wie würde er es machen? Eine Ehefrau, die sich um ihr Leben betrogen sah? Auch gut, aber wie würde die vorgehen? Stundenlang auf dem Golfplatz warten? Vielleicht sogar geduldig warten, bis das Paar die Liebe genossen hatte und sich anschickte, die Bahn sechzehn zu meistern? Dann mit einer geradezu übernatürlichen Ruhe erst den Mann und dann die Frau erschießen? Vielleicht noch darauf spekulierend, daß zum Motiv Eifersucht die Perfektion der Tat auf keinen Fall paßte.
Ich rollte die lange Gerade nach Hillesheim hinein und ging im Teller einen Kaffee trinken. Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, wer mich bediente, ich weiß nur noch, daß ich fragte, wo denn Pierre Kinn von der Sparkasse stationiert sei. Ich bekam die Antwort: »In Daun.«
Dann begriff ich, mit wem ich sprechen mußte, dann begriff ich auch, was mich an diesem Fall so verwirrte. War es möglich, daß einer dieser höchst ehrbaren, gläsern lebenden, stets mit Krawatte versehenen Banker eine leidenschaftliche Liebe zur Ehefrau eines anderen pflegen konnte, ohne daß er gewarnt, ohne daß ihm im Wiederholungsfall sofort der Stuhl vor die Tür gesetzt wurde?
Verbotene Liebe in der Eifel ist eine Form von Selbstzerstörung. Aber Selbstmord war es nicht. Und wenn sie sich so sehr liebten – warum waren sie nicht einfach fortgegangen? Nach Kanada oder Australien oder wohin auch immer...
»Scheißliebe!« wiederholte ich.
Ein Kombi eines Bestattungsunternehmens kam mir entgegen, ich vermutete, sein Ziel war der Golfplatz.
Auf der Höhe hinter Zilsdorf lag das Land in ganzer Pracht, über Stroheich tummelte sich ein Turmfalkenpaar, die Kirche von Oberehe versteckte sich in einer hauchdünnen Nebelwolke, die langsam aufwärts stieg, von der Sprudelquelle in Dreis schleppten sich drei schwerbeladene Lastzüge an mir vorbei, deren Fahrer über Funk miteinander sprachen und lachten – es war ein geruhsamer, sonnendurchfluteter Herbsttag, zwei grausam Ermordete wirkten da vollkommen fehl am Platz, unwirklich.
Ich fuhr über Rengen nach Daun hinein und erwischte einen passablen Parkplatz, was man ein Erfolgserlebnis nennen kann. Ich war nicht richtig gekleidet, trug ein buntes Sommerhemd, das Kilo zu zwanzig Mark, einfache, bereits angedreckte Jeans und meine geliebte Lederweste, von der Freunde behaupten, sie stamme aus dem 17. Jahrhundert. So marschierte ich unrasiert zu Hans-Jakob Udler, dem Herrn der Sparkasse, dem nachgesagt wurde, er liebe den Stil Ludwigs XIV.
Seine Sekretärin betrachtete mich mit der edlen Abscheu, die Figuren mit meinem Outfit erregen, und plapperte obenhin: »Ich fürchte, der Chef hat keine Zeit.«
»Doch, hat er«, lächelte ich. »Sagen Sie ihm, Pierre Kinn ist tot.«
Sie wollte etwas erwidern, führte den Zeigefinger der rechten Hand durchaus grazil zum Mund, aber sie sagte nichts und entschwand hinter einer Tür. Es dauerte kaum zehn Sekunden, da trällerte sie: »Der Herr Direktor Udler hat jetzt Zeit.«
»Siehste«, sagte ich und ging an ihr vorbei.
Ich bin immer wieder äußerst verblüfft über die Phantasielosigkeit, die in den Arbeitsräumen der Mächtigen waltet. Alles ist Mahagoni oder Walnuß oder Rosenholz, der Teppich ist gedeckt, irgendwo kümmert etwas Grünliches in geschmacklosen Keramiktöpfen und verbreitet die Heimeligkeit eines feuchten Aschenbechers. Auf dem Schreibtisch liegt gewöhnlich nichts, was wohl darauf hindeuten soll, daß der Hausherr alles im Griff hat. Bei Udler war das genauso.
Er hockte hinter seinem leeren Schreibtisch wie hinter einer Brustwehr, und er hatte ein vollkommen graues Gesicht wie aus pulvrigem Zement. Er sah mich an, und er sah mich doch nicht. Um seinen Mund zuckte es, die Finger beider Hände rangen miteinander und verschränkten sich. Er war ohne Zweifel ein sehr betroffener, tieftrauriger Mann.
Ruckartig stand er auf und stieß den Stuhl mit den Kniekehlen heftig zurück. Zittrig fragte er: »Unfall, nicht wahr? Pierre fuhr immer zu schnell. Viel zu schnell.«
Weil ich den Atem seiner Sekretärin im Genick spürte, antwortete ich nicht.
Er stierte mich mit weiten Augen an und beugte sich dabei vor. Dann drehte er sich blitzschnell zur Seite, als habe ihn ein körperlicher Schlag getroffen, und schloß die Augen. »Er fuhr immer zu schnell. Wie oft habe ich ihn gewarnt. Mein Gott, Pierre.«
Die Tür hinter mir klackte.
»Aber Sie sind nicht von der Polizei, oder?«
»Ich bin nicht von der Polizei«, bestätigte ich. »Aber die wird bald hier sein. Pierre Kinn ist erschossen worden. Auf dem Golfplatz. Gestern abend.«
Diese wirklich mächtigen Brieftaschenherren in der Provinz beherrschen den Trick des Understatements auf eine geradezu erschreckende Weise. Sie sehen wie gütige Väter aus, tragen den Kranz weißer Haare wie einen Orden, gehen sonntags brav in die Kirche und sind wie Geier auf dein Geld aus. Sie wirken oft wie langweilige Typen, aber das ist gewollt. Diese Maske fehlte Udler jetzt, er war fassungslos.
Er war so groß wie ich, etwa 175 Zentimeter. Er war leicht dicklich, aber nicht fett, hatte einen zu hohen Blutdruck, sein Hals war gedrungen und rot. Er trug einen dunkelblauen Anzug mit Weste und schwarz-weiß gestreifter Krawatte. Seine Augen waren ganz leer, im Grunde war sein Gesicht hager, was durch die breite Stirn verwischt wurde, und er trug nicht einfach eine Uhr, er trug eine Breitling.
Udler flüsterte: »Ich habe ihn so gemocht. Er war wie ein Sohn.«
Dabei wußte er immer noch nicht, ob er mir einen Stuhl anbieten sollte. Ich setzte mich erst einmal.
»Selbstverständlich«, murmelte er und ging hinter seine Brustwehr zurück. »Erschossen? Wie denn das?«
»Wir kennen die Waffe noch nicht. Kennen Sie jemanden, der diesen Pierre Kinn genügend haßte, um ihn zu erschießen?«
Er hockte da wie ein Häufchen Elend und starrte mich an, legte beide Hände vor sein Gesicht. »Sowas Verrücktes«, hauchte er. Dann fiel ihm etwas auf. »In welcher Funktion sind Sie hier? Ich meine, was haben Sie eigentlich damit zu tun?« Plötzlich hatte er wachsam funkelnde Augen.
»Ich bin Journalist«, erklärte ich.
»Aha.« Das gefiel ihm nicht, aber er nahm es hin. »Pierre Kinn war einer meiner engsten Mitarbeiter. Sehr eifrig, sehr talentiert, sehr nah am Kunden. Er hatte eine große Karriere vor sich. Erschossen, sagen Sie? Gestern abend? Golfplatz? Ich erinnere mich, er spielte Golf, ja. Was weiß man denn schon?«
»Nichts«, sagte ich.
»Er hat eine entzückende Frau... und entzückende Kinder.« Da war die Maske.
»Und eine entzückende Geliebte«, schob ich schnell nach. »Deswegen bin ich hier.«
»Davon weiß ich nichts«, entgegnete Udler hart mit Augen wie Kiesel.
»Das glaube ich nicht. Es ist unmöglich, daß Sie nichts davon wissen.«
»Ich bediene die Sensationspresse nicht.«
»Die bin ich nicht. Ich will wissen, was Sie von der Geliebten des Pierre Kinn wissen. Ich glaube nicht, daß Sie nichts wissen. Die Geschichte läuft seit zwei Jahren. Sie wußten davon.«
»Haben Sie selbst schon mit der Frau gesprochen?« erwiderte er und sah mich ganz ruhig an.
Ich schüttelte den Kopf. »Das geht nicht, sie wurde ebenfalls erschossen.«
»Etwa zusammen mit Pierre?« fragte er.
»Richtig«, nickte ich.
»Ach, so ist das«, murmelte er. »Das war seine Privatsache.«
»Lieber Gott, das war es nicht.« Ich wurde wütend. »In der Eifel wird an diesem Punkt genauso gelogen wie überall. Da wird gesagt, es ist deine Privatsache, die geht mich nichts an. Aber hintenrum wird getuschelt, moralisiert und verurteilt. Es wird auch gehandelt, übel gehandelt. Sie sind Boß dieser Bank, also was wußten Sie? Und noch etwas: Ich lebe seit elf Jahren hier. Ich weiß, daß Kinn einen guten Ruf hatte. Ich weiß aber auch, daß er keinen Dünnschiß haben konnte, von dem diese Bank hier nichts wußte.«
Ich hatte ihn, und er war klug genug, das zu bemerken. Er lächelte nun das offene unverbindliche Bankerlächeln, das deutlich machte, daß sein Zahnarzt merkwürdigerweise die Dritten zu hell gemacht hatte. Udlers Augen waren vollkommen tot, nur seine Hände wurden weiß, weil er sie so hart verschränkte. »Pierre Kinn kam vor anderthalb Jahren zu mir. Er berichtete mir von dieser Sache. Er sagte auch: Ich biete dir die Kündigung an. So war er: immer offen, immer angriffslustig. Ich beruhigte ihn: Das ist deine Privatsache, das geht die Bank nichts an.« Der Bankerboß war nervös, er suchte einen Halt für seine Hände, aber auf dem Schreibtisch war nichts.
»Welche Nachteile hatte diese Geliebte für ihn?« hakte ich nach.
»Keine«, antwortete er schnell. »Von uns aus keine. Nicht die geringsten. Aber ich denke, ich kann Ihnen nicht mehr sagen. Ich muß ja auch an den Datenschutz denken.«
»Erzählen Sie das mal dem Pierre Kinn«, schlug ich vor. »Er wird es Ihnen danken.« Ich stand auf, nickte ihm zu und ging.
Die Blonde im Vorzimmer hielt theatralisch eine elegante Hand vor den leicht offenen Mund. »Wie entsetzlich«, hauchte sie. »Ich mußte einfach zuhören.«
»War das Gerede hier schlimm?« fragte ich freundlich.
»Ach Göttchen«, sie kicherte, »Sie wissen doch, wie das hier in der Eifel so ist. Den meisten ist so langweilig, daß so eine Sache wochenlang geht. Was sage ich, wochenlang! Monate und so. Der Pierre war aber auch einer! Schrecklich.«
»War er ein lustiger Vogel?«
»Das auch«, sie nickte eifrig. »Immer ein Scherzchen, wissen Sie, immer ein Scherzchen. Es konnte noch so ernst sein, er sagte immer zu mir: Monika, bevor das Schiff kentert, will ich dich noch knutschen! Das sagte er immer.« Dann begann sie unvermittelt zu weinen. »Aber das hat er nicht verdient. Erschossen.«
»Hat Ihr Chef ihn wirklich geliebt?«
Sie tuschelte. »Er ist gar nicht mein Chef, ich bin nur die Aushilfe. Sonst sitze ich in der Kreditabteilung. – Und Sie sind Journalist? Für wen denn? Ja, die waren ein Herz und eine Seele.«
»Das weiß ich in diesem Fall nicht«, erklärte ich wahrheitsgemäß. »Wo wohnen Sie denn?«
»In Dockweiler«, sagte sie. »Aber meistens bin ich bei meinem Freund in Gerolstein. Ich heiße Monika Hammer.«
»Und wo hat Pierre Kinn gewohnt?«
»Er hatte ein Häuschen in Berlingen«, plauderte sie weiter. »Ich war bei der Einweihungsparty damals. Das war wild. Na ja, hat nichts gebracht.«
»Wie war denn diese Frau?« fragte ich.
»Das weiß ich nun wirklich nicht«, sagte sie. »Die kenne ich nicht. Soll von Jünkerath sein, wurde gesagt. Muß ja wohl Liebe gewesen sein. Na ja, sie sollte ja Pressechefin werden von dem Bad und dem Hotel in Kyllheim.
Das hat ja Pierre gebaut, also betreut; Öffentlichkeitstante sollte sie da werden.«
»Kyllheim? Das Riesenprojekt? Das hat Pierre Kinn betreut?«
»Er ist das Lieblingskind vom Chef!« Sie deutete mit dem Daumen auf die geschlossene Tür. »Er wollte das Ding, er setzt es hin. Pierre war Objektleiter. Ach, das wußten Sie nicht?«
»Das wußte ich nicht«, gab ich zu. »Aber das ist heute wohl egal. Wo wohnt denn die Familie dieser toten Frau?«
»In Kelberg. Der Mann soll ja ziemlich viel getrunken haben. Immer schon. Du lieber Himmel, hier wird ja auch viel gesoffen. Der hat in Kelberg eine Bauschreinerei. – Erschossen? Sagen Sie mal, wie denn? Mit einem Gewehr oder einer Pistole, ich kenne mich da nicht aus.«
»Das weiß man noch nicht«, sagte ich. »Wenn ich noch etwas wissen muß, kann ich Sie fragen?«
Sie sah mich mit leicht geneigtem Kopf an und erwiderte: »Ich weiß zwar wirklich nichts, aber Sie können es ja versuchen. Haben Sie denn schon die Villa Wasserbett besichtigt?«
»Bitte, was?«
»Die VW. Also, Pierre und die Heide, also die Heidelinde Kutschera, haben einen Freund. Der ist Jäger, genauso wie Udler, unser Chef. Und dieser Freund hat eine Jagdhütte. Bei Bleialf. Da wird erzählt, Pierre und die Heide hätten sich ein Wasserbett reingebaut, damit es mehr Spaß macht.« Monika Hammer grinste wie ein Lausebengel. »Na ja, kein Mensch weiß was Genaues. Aber die Jagdhütte war der Liebestempel. Da bin ich aber erstaunt, daß Sie das noch nicht wissen.«
»Ich weiß eigentlich gar nichts«, erklärte ich. »Und von der Jagdhütte weiß wahrscheinlich ansonsten jeder.«
»Na sicher«, sagte sie verschmitzt. »Nur eins macht in der Eifel mehr Spaß als Fernsehen: tratschen.«
Plötzlich ging die Tür hinter ihrem Rücken auf, und Udler sagte: »Wir müssen ein paar Briefe fertig machen.«
»Sofort«, sagte sie, »sofort, Chef.« Sie blinzelte mir zu und begab sich ans Tagwerk. In der letzten ihr verbleibenden Sekunde hob sie die Hand, und ihre Fingerchen wedelten mir einen Abschied zu.
Zuweilen hasse ich die Trivialitäten deutscher Lust. Jetzt auch noch ein Wasserbett in verschwiegener Jagdhütte bei Bleialf. Ich machte mich auf den Heimweg und hörte unterwegs mit Inbrunst ein Band: Eric Claptons Unplugged.
Esgab zwei Möglichkeiten: Entweder lösten Wiedemann und seine Truppe das Rätsel um die beiden Toten sehr schnell – dann brauchte ich erst gar nicht mit der Recherche anzufangen. Oder aber, sie konnten das Rätsel nicht knacken – dann mußte ich genau überlegen, bei wem ich meine Nachforschungen am besten beginnen konnte. Nichts in meinem Beruf ist gefährlicher als eine scheinbar sichere Auskunft von der falschen Person, auf der man sich länger als vierundzwanzig Stunden ausruht. Regel: Streue dein Wissen mit Vorsicht, und erinnere dich genau an das, was du gesagt hast. Dann warte ruhig auf das, was man dir aufgeregt zuflüstert.
Sofort fiel mir eine Zielperson ein: Flora Ellmann von den Grünen, die angeblich der aussichtsloseste Versuch ist, einen Pudding an die Wand zu nageln.
Also rollte ich in dem Bewußtsein, ein gutes Programm zu haben, befriedigt auf den Hof. Ich konnte nicht ahnen, daß ich zunächst nur dem Mörder diente. Weil ich unklare Angaben nicht mag, sage ich auch gleich, warum ich ihm diente: Ich verschaffte ihm Zeit.
Momo kam laut schreiend aus dem Garten, weil ständige Hungersnot ihn marterte. Allerdings hörte er auf zu schreien, als ich ihn kraulte. Paul fauchte irgendwo, und ich war zufrieden, meine Verwandtschaft um mich herum zu haben.
Ich schickte Flora Ellmann, von der die meisten Kundigen behaupteten, sie sei im wesentlichen mit ihrem Faxgerät verheiratet, eine schnelle Botschaft in der Hoffnung, sie aufzuscheuchen. Das Fax lautete: Achtung, Flora! Doppelmord auf dem Golfplatz. Ziemlich grausame Geschichte mit einer unbekannten Waffe. Ruf mich an.
Dann sah ich zu, wie das Gerät das Blatt Papier schluckte, und noch ehe die Bestätigung des glatten Durchlaufs kam, klingelte das Telefon, und Flora schrie im Diskant: »Mach mich nicht schwach, Baumeister. Tote? Gleich zwei? Golfplatz? Muß ich hin!«
»Langsam«, sagte ich, obwohl diese Mahnung bei Flora gänzlich blödsinnig ist. »Was weißt du über einen jungen Banker namens Pierre Kinn?«
»Nichts Besonderes. Ist zweiter Mann unter Hans-Jakob Udler bei der Kreissparkasse. Ziemlich heller Junge. Kümmert sich um Investitionen. Wieso? Ist er der Mörder? Ich sag's ja, diese stillen Wasser!«
»Flora, langsam. Der Knabe ist ein Toter.«
»Ich sag's ja, immer diese stillen Typen. Erst bei ihrem Tod stellt sich raus, daß sie Schweine waren. Und wieso hat den jemand umgebracht?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich. »Kennst du eine Frau namens Heidelinde Kutschera?«
»Ja klar, kenne ich. Nicht genau, aber ich weiß, wen du meinst. Steht die im Verdacht? Das ist so 'ne Blonde, Hochtoupierte.So 'ne Brigitte-Tussi.«
Ich dachte an Floras schmuddelige Pullover und mußte Heidelinde Kutschera verteidigen. »Sie ist auch tot«, informierte ich Flora. »Fünf Minuten vorher hatte sie einen Orgasmus auf Pierre Kinn. Hoffe ich.«
Es war eine Weile sehr still, was wahrscheinlich damit zu tun hatte, daß Flora sich ein Bild malen mußte.
»Wieso auf? Ich meine... Willst du sagen, beide sind tot? Liebesdrama oder so? Auf dem Golfplatz?«
»Bahn sechzehn.«
»Und wer war's?«
»Weiß noch keiner. Erkundige dich mal nach den beiden Toten. Du wirst bei deinen intimen Kenntnissen der Gesellschaft in der Eifel schneller was herausfinden als ich.«
Da sie nicht genau wußte, ob ich sie veräppelte oder nicht, murmelte sie: »Ach weißt du, mein gesellschaftliches Engagement bezieht sich ja mehr auf ökologische Themen und so. Falls ich was erfahre, rufe ich dich an. Klar.« Dann hängte sie ein.
Ich konnte davon ausgehen, daß innerhalb der nächsten drei Stunden mindestens zweihundert Leute ganz genau informiert werden würden. In der Eifel braucht man keine Zeitung, man braucht Flora Ellmann.
Dann rief ich die Redaktion in Hamburg an, und ein sehr müder Kollege namens Bacharach stöhnte: »Was soll ich mit einem Doppelmord im Blatt?«
»Was du damit sollst, weiß ich nicht. Vielleicht liest es jemand«, erwiderte ich sauer. »Hör zu: Es sieht nach einer verdammt exotischen Waffe aus, ferner nach einem eiskalten Killer, ferner nach einem Liebesdrama mitsamt vier unmündigen Kindern oder so. Willst du es oder nicht?«
»Mein Verleger sagt, er hätte schon Scheiße genug im Blatt. Also, ich will es nicht.«
Die Konkurrenz nebenan war nicht aufmerksamer. Eine jung klingende Dame namens Wetterstein murmelte gedankenvoll: »Wir könnten so verbleiben: Wenn wirklich eine gute Geschichte dabei rauskommt, lesen wir sie mal und entscheiden dann.« Die journalistische Zugriffsfreudigkeit dieser Redaktion beruht im wesentlichen auf diesem Satz. Das hat zur Folge, daß ganze Hefte langweilig sind, weil die gesamte Redaktion gerade liest.
»Es muß nicht sein«, sagte ich hoheitsvoll und hängte die Dame ab. Dann hatte ich die wahnwitzige Hoffnung, daß jemand in München vielleicht Interesse haben könnte. Der Chef vom Dienst wehrte ab. »Och nöööhhh, nicht sowas! Deutsche Dramen haben was von literarischem Tee. Die machen wir nicht so gerne.«
Im gleichen Moment wußte ich, daß ich die Geschichte zu früh offeriert hatte. Man muß warten, bis die Deutsche Presse Agentur eine Blitzmeldung absetzt. Dann werden die Redakteure wach, dann sind sie munter und meistens sogar richtig freundlich.
Also betrieb ich mein eigenes Geschäft, indem ich die Deutsche Presse Agentur in Bonn anrief, mich mit dem Chef vom Dienst verbinden ließ und artig meine Mitgliedsnummer im Deutschen Journalisten Verband nannte. »Ich habe zwei Tote für euch. Ermordet. Ziemlich grauenhaft. Auf einem Golfplatz...«
Ich schilderte munter, was denn so passiert sei, und wartete genau fünfzehn Minuten bei stiller Betrachtung meines Gartens. Dann rief der Mann an, der was von deutschen Dramen und literarischem Tee gemurmelt hatte, und erklärte süßlich wie in einer Therapiestunde: »Also, erst mal entschuldige ich mich. Und dann hätten wir eine Bitte...«
»Jetzt habe ich aber keine Zeit mehr«, sagte ich.
»Aber wir hätten gern die Fotos, die Sie haben.«
»Die sind verkauft«, behauptete ich mit unendlich viel Schmalz in der Stimme. So rächt sich ein Kleinbürger aus den Bergen der stillen Eifel.
Es folgte die Hamburger Konkurrenz und säuselte herum, vor ein paar Minuten hätten sie nicht richtig einschätzen können, was ich habe. Nun sei ihnen klar, daß es sich um eine sehr tiefgehende deutsche Tragödie handele, und sie hätten gern die Fotos, die ich sicherlich sicherheitshalber gemacht hätte. »Besonders die von den beiden Liebenden«, meinte die Dame ganz entzückt.
»Ach«, sagte ich betulich, »die sind vergeben«, und hängte ein.
Dann meldete sich Flora Ellmann mit ungefähr folgendem Monolog: »Also, weißt du, mein Lieber, mich trifft der Schlag. Also mindestens. Die waren ja ein total sexistisches Paar, und noch dazu eines auf dem Konsumtrip. Kein Wunder, daß die den Löffel abgeben mußten. Also ich sage immer wie meine Oma: Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Da hat ja wohl der Ehemann der Dame zugeschlagen. Und soweit ich weiß, ist der in einem Club für Bogenschützen. Sag mal, ist das ehrlich so, daß die mitten auf dem Golfplatz... also, ich will sagen, daß die sowas machten? Und dann dieser Bogenschütze! Herrlich. Wie Robin Hood, würde ich mal sagen...«
»Flora, bitte. Was hast du über die Toten erfahren?«
»Also, eigentlich nix«, antwortete sie erstaunlich offen.
»Dann mach weiter«, hängte ich sie ab.
Gerade als ich vorhatte, mir einen Kaffee zu kochen, rief der Hamburger Redakteur an und erklärte lapidar: »Ich habe das eben nicht so klar mitgekriegt. Aber jetzt ist es sauber. Hast du Tatortfotos?«
»Na sicher.«
»Bekommen wir die?«
»Na sicher.«
»Wieviel Text?«
»Weiß ich nicht. Laßt mich erst den Mörder fangen, dann sage ich euch, wieviel Text. Die Preise sollten wir kurz erwähnen.«
»Das Übliche«, sagte er. »Aber nur, wenn es exklusiv ist.«
»Ist es«, versprach ich. Dann trennten wir uns.
Ich erklärte Momo und Paul genau, wieviel Whiskas ich liefern könnte, und sie zwinkerten zufrieden und knurrten sich ausnahmsweise nicht an.
Erneut klingelte das Telefon, und Wiedemann teilte mir mit: »Damit Sie sich nicht das Gehirn verrenken – wir haben einen Hauptverdächtigen.«
»Der Ehemann der Frau ist Bogenschütze.«
»Richtig«, sagte er knapp. »Er hat ein mieses Alibi, er wirkt eiskalt, und er verweigert die Aussage. Er hat einen Anwalt zugezogen, der plötzlich Sorgenfalten trägt. Das freut einen deutschen Beamten.«
»Herzlichen Glückwunsch«, meinte ich nicht sehr überzeugt. »Kann ich ein Interview mit ihm machen?«
»Wenn er zustimmt, jederzeit. Aber erst nach den Verhören.«
»Soll mir recht sein«, sagte ich tapfer. Es war, als hätte man eine Nadel in einen prallgefüllten Luftballon gestochen.
Ich erinnere mich gut, daß ich wie ein Traumwandler zur Anlage ging und wieder Eric Clapton auflegte. Blues before sunrise...
Die Katzen verdrückten sich vorsichtshalber. Nun gut, es würde ausreichen, spannende journalistische Bilder zu liefern. Die Fotos hatte ich, ein paar Tage intensive Recherche – Liebesdrama in einer wertekonservativen Gesellschaft. Es würde keinem Leser die Schuhe ausziehen, aber es würde meinem Konto dienen.
Das Telefon klingelte schon wieder, aber ich wollte nicht abheben. Das Band schaltete sich ein, eine Frau meldete sich geradezu unheimlich ruhig: »Das tut mir leid. Ich hätte Sie gern gesprochen.«
Ich nahm ab. »Baumeister hier.«
Die Frau sagte: »Guten Tag auch. Es ist ja egal, wer ich bin, oder?«
»Wenn Sie wollen.«
»Stimmt es, daß Frau Kutschera tot ist?«
»Das stimmt.«
»Und der Pierre auch?«
»Der auch.«
»Stimmt es, daß die Polizei Kutschera verhaftet hat? Das hört man so.«
»Das weiß ich nicht. Sie haben ihn wohl zu einem Gespräch gebeten.«
»Er war es aber nicht. Ich meine, wenn das gestern abend passiert sein soll, dann war er es nicht.«
»Wer sind Sie denn?«
»Ist das wichtig?«
»Es wird immer wichtiger.«
»Na gut. Ich bin Ruth Möller. Ich bin... ich bin eine Freundin von Heidelinde. Aber auch eine Freundin von ihrem Mann. Der war gestern hier. Mit Waltraud Kinn. Ich denke ja, man muß die Wahrheit sagen. Die waren gestern abend hier.«
»Was heißt hier?« fragte ich vorsichtig.
»Hier bei mir. Ich habe ein Haus, ich meine, sie kamen hierhin.«
»Wieviel Uhr war das?«
»Fünf, also siebzehn Uhr. Ich wollte... ich habe damit ja nichts zu tun... die wollten miteinander reden. Denen ging es dreckig, wissen Sie.«
»Bis wann sind die bei Ihnen gewesen?«
»Bis um zwei heute nacht.«
»Ist das beweisbar?«
»Na sicher. Ich hab ihnen doch Tee und Kaffee gemacht.«
»Ruth Möller, das ist mehr als wichtig. Wo wohnen Sie?«
»In Walsdorf.«
»Und der Kutschera hat Ihr Haus nicht verlassen?«
»Nicht eine Minute. Ich habe den noch nie so erlebt. Er hat geweint, richtig geweint.«
»Ich möchte mit Ihnen sprechen.«
»Ja, sicher. Birkenweg sechs.«
»Bis gleich«, sagte ich.
Ich wollte alles Mögliche gleichzeitig tun. Dann fiel mir Wiedemann ein. Ich rief die Polizei in Daun an, und man sagte mir, sie könnten verbinden. Es gab merkwürdige Pieptöne, dann ein kräftiges Rauschen.
»Baumeister hier. Ich denke, Sie haben Ihren Mörder verloren.«
»Wieso?«
»Weil ich die Frau habe, die ihm ein Alibi gibt.«
»Scheiße!« rief er heftig. »Die Adresse bitte.«
Ich gab sie ihm.
»Fahren Sie nicht dorthin«, befahl er knapp. »Ich will zuerst mit ihr sprechen.«
»Klar«, versprach ich.
»Vielen Dank. Rodenstock muß gleich eintrudeln. Ich lasse die Leichen nach Daun bringen. Krankenhaus. Wir sehen uns dort. Übrigens noch etwas: Es handelt sich wirklich um Margarine. Streng genommen um ein Erzeugnis unter dem Handelsnamen Rama.«
»Wie haben Sie das so schnell rausgekriegt?«
»Mein Chemiker ist gut. In dieser Rama war ein Stoff, der nicht auf den Frühstückstisch gehört und...«
»Curare«, tippte ich schnell.
»Das nicht«, sagte er. »Wir wissen noch nicht, um was für ein Gift es sich handelt.« Dann hatte er aufgelegt.
Paul lief auf mich zu und fiel wie üblich auf der Stelle um. Er wedelte mit allen Pfoten, und ich kraulte ihn und sagte: »Ich weiß, mit wem ich sprechen muß, mein Lieber. Mit Charlie. Und Charlie mag Katzen nicht, also mußt du zu Hause bleiben.«
Paul war das ganz egal.
Ich spielte die kleine Hausfrau, richtete Rodenstock das Gästezimmer her und bezog ein Bett. Er sollte es richtig gut haben bei mir. Ich spielte sogar mit dem Gedanken, ihm ein paar wilde Rosen neben das Bett zu stellen, aber das ließ ich doch sein.
Es schellte, ich schrie: »Reinkommen! Kognak kommt, Kaffee kommt, bittere Schokolade habe ich auch.«
Jemand sagte etwas schrill: »Wie?«, aber es war nicht Rodenstock, es klang eher weiblich.
Also polterte ich die Treppe hinunter, und da stand sie. Sie war etwas kleiner als ich, stämmig und wirkte hoffnungslos freundlich. Dunkle, schulterlange Haare rahmten eine Brille, die auf erhebliche Kurzsichtigkeit hinwies. Aber die Augen strahlten. Sie trug eine Lederjacke aus dem Krieg 70/71, Jeans und die Sorte schwarzer Stiefel, die im australischen Outback sehr beliebt ist. Sie sagte: »-Ich wollte zu Herrn Baumeister.«
»Der bin ich.«
»Ich habe Sie schon angerufen, aber Sie waren nicht da«, erklärte sie. Vielleicht war sie 28, vielleicht 30, nein, eher 25.
»Was kann ich für Sie tun?«
Sie lächelte. »Das geht hier nicht auf der Treppe.«
»Ach, du lieber Gott. Kommen Sie rein. Gleich neben Ihnen sind Sessel und sowas. Viel Zeit habe ich aber nicht.«
»Das macht nichts«, murmelte sie etwas stumpf. Sie drehte sich zur Seite und hockte sich im Arbeitszimmer in einen Sessel.
»Ich heiße Marcus«, stellte sie sich vor, »Dinah Marcus. Ich bin aus einem Nest hinter Daun. Da lebe ich. Nun geht das nicht mehr so gut. Ich wollte fragen, ob Sie vielleicht wissen, wo ich journalistisch arbeiten kann. Oder, wie ich an Kontakte komme.«
Du lieber Himmel, jemand der meinen Berufsstand anstrebte. An einem Montag. Eine Frau. Mitten in der Eifel. »Was haben Sie denn bisher geschrieben?«
»Allerhand, einiges, in alternativen Szeneblättern, Sie wissen schon.«
»Ich weiß gar nichts«, meinte ich. »Ich arbeite fast immer allein. Wie alt sind Sie denn?«
»Fünfunddreißig«, antwortete sie. »Ich bin Soziologin. Aber wer braucht schon eine Soziologin?«
»Das weiß ich auch nicht«, gab ich zu. »Haben Sie denn irgend etwas Geschriebenes mitgebracht?«
Mit dem rechten Zeigefinger fuchtelte sie unentwegt in der Luft herum. »Ich könnte was schicken. Aber hat das überhaupt Zweck? Ich meine, lesen Sie das?«
»Das lese ich«, nickte ich. »Aber im Moment haben wir hier einen Doppelmord, da geht es etwas lebhaft zu.« Ich erwähnte das so beiläufig, als handelte es sich um Alltägliches.
Sie war irritiert. Sie sagte: »Aha!« Dann fuhrwerkte sie erneut mit dem Zeigefinger vor ihrem Körper herum. »Ich meine, ich muß irgendwie sehen, wie ich mich in der Eifel durchschlage. Ich liebe die Eifel. Ich will hierbleiben.« Sie hielt inne. »Wer ist denn ermordet worden?«
»Das ist nicht weiter wichtig«, erklärte ich großspurig. »Haben Sie Zeit?«
»Ja. Ziemlich viel.«
»Haben Sie auch ein Auto?«
»Ja.«
»Ist da auch Sprit drin?«
»Wenig.«
»Dann tanken Sie voll. Hier ist Geld. Sie können sofort etwas tun. Ein Paar ist ermordet worden. Der Mann war Banker. Das Paar hatte eine Jagdhütte bei Bleialf. Ich muß verdammt schnell wissen, wo diese Hütte genau steht. Bitte feststellen, nicht reingehen, auch nicht einbrechen. Geht das?«
»Natürlich«, sagte sie. »Aber ich brauche die Namen.«
Ich gab sie ihr, und sie lief zu einem silbrigen Golf, der knatternd von dannen zog. Es klang wie eine Kriegserklärung an sämtliche Eingeborenen.
Mittlerweile war es hoher Mittag, die Sonne stand stark über dem Land, in einem Schattenflecken unter der Birke lagen meine beiden Katzen und dösten vor sich hin, ein ganz matter Wind ließ die Blätter fliegen und übergoß den Baum mit Silber. Es war einen Moment so, als könne die Zeit stillstehen.
Annette kam mit dem kleinen Kevin vorbei und verkündete, ihr Walter feiere Geburtstag in der Schutzhütte und es gebe Spießbraten. Für einen Junggesellen ist das eine wunderbare Nachricht.
Kaum war sie verschwunden, brauste ein leibhaftiger Polizeistreifenwagen auf den Hof, und Rodenstock stieg aus, reckte die Arme gen Himmel und sagte: »Baumeister, ich brauche frische Luft.« Er sah überraschend gut aus, hatte zwar eine feuerrote Nase wie ein Warnzinken, aber seine Augen waren erstaunlich hell. Hinter ihm lud ein Uniformierter zwei Koffer aus und fragte: »Wohin damit?«
»Ich nehme sie«, sagte ich.
»Ich will nur schnell die Scheißkrawatte loswerden«, sagte Rodenstock heiter.
»Warum tragen Sie überhaupt eine?«
»Das weiß ich auch nicht«, meinte er. »Wo sind die Leichen?«
»Im Dauner Krankenhaus. Wir fahren gleich hin. Erst mal Kaffee und so?«
»Erst mal das. Die Toten rennen ja nicht weg. Was haben Sie für einen Eindruck?«
»Ein richtiges Liebesdrama«, gab ich Bescheid. »Mehr ist nicht erkennbar. Aber dieser Mord war ungeheuerlich perfekt.«
»Vielleicht aus Zufall?« fragte er.
»Kann sein«, nickte ich.
Paul kam harmlos um die Hausecke, nahm Anlauf und pflanzte sich an den rechten Oberschenkel meines Gastes.
»Nicht schlagen«, rief ich hastig.
Rodenstock verzog das Gesicht, sagte aber nichts. Er griff Paul behutsam, löste die nadelscharfen Krallen, hielt ihn im Genick hoch. »Du wirst noch lernen müssen, mein Junge«, sagte er. »Aber eigentlich hast du mir beigebracht, wie sich Leben anfühlt.«
»Ich fahre dann«, meldete sich der Uniformierte lahm. Als wir nickten, verschwand er mit Vollgas.
»Wissen Sie«, sagte Rodenstock, »ich wäre wahrscheinlich auch ohne die beiden Toten hier erschienen.«
»Die Gesundheit?« Ich wollte es hinter mich bringen, und er sollte nicht zappeln müssen.
»Erstaunlich«, grinste er. »Ich habe Krebs, aber der rührt sich nicht mehr. Operieren wollen sie nicht, sie sagen, das ist sinnlos, wenn keine Gefahr besteht. Es besteht keine Gefahr.«
»Herzlichen Glückwunsch. Jetzt gibt es Kaffee und so weiter.«
In der Küche plauderte Rodenstock eine Weile über sein Rentnerdasein, rauchte eine Brasil vom Format Kanonenrohr, trank Kognak und Kaffee und aß bittere schwarze Schokolade. Seit ich ihn kannte, hatte ich immer welche im Haus. So ist das, wenn man jemanden mag.
Wenig später zog er sich gemütlich an, wie er das nannte, und wir fuhren nach Daun. Im Krankenhaus Maria-Huf wurden wir erwartet. Ein junges Mädchen führte uns in den Keller, in einen sehr kalten Raum, in dem Ventilatoren liefen.
Wiedemann stand an einem Fensterschacht und rauchte nachdenklich einen seiner widerlichen Stumpen. Pierre Kinns und Heidelinde Kutscheras Leichen lagen nackt unter sehr grellen grünen Neonstreifen.
»Mensch, Knubbel!« sagte Rodenstock ganz gerührt, und sie umarmten sich.
»Hallo, mein Alter«, brummte Wiedemann etwas verlegen. »Sieh dir die Bescherung an.«
»Habt ihr Gummihandschuhe hier?« fragte Rodenstock.
»Sicher doch, in dem Karton da«, murmelte Wiedemann.
Rodenstock zog die Wolljacke aus, krempelte die Arme hoch und streifte die Gummihandschuhe über. »Welcher interessiert dich mehr?« fragte er.
»Die Frau«, erwiderte Wiedemann knapp. »Kopfdurchschuß. Links rein, rechts raus. Knochen sehr glatt durchschlagen.«
»War es mit Sicherheit Sperma?« erkundigte ich mich.
Er nickte. »Es war Kinns Sperma, sogar das ist glasklar.«
»Seid mal ruhig«, forderte Rodenstock. »Hast du eine Lupe oder ein Vergrößerungsglas?«
Wiedemann reichte ihm eines, das groß und klobig wirkte.
Rodenstock fragte: »Irgend etwas verändert?«
»Nichts«, sagte Wiedemann. »Keine Sonde eingeführt, keine Spiegelung gemacht. Wir wollten warten, bist du da bist.«
»Habt ihr am Tatort Profile gefunden?«
»Nicht die Spur. Wenn etwas dagewesen wäre, hätten wir es gefunden.«
»Also sehr perfekt«, nickte Rodenstock. Er betrachtete die Kopfwunde der Frau aus nächster Nähe, dann bat er unvermittelt: »Dreht sie mal um.«
Wahrscheinlich meinte er Wiedemann und mich. Ostentativ wollte ich sagen: »Das mache ich nicht.« Aber ich machte es, und es war leichter, als ich dachte.
Lange betrachtete Rodenstock den Ausschuß, ließ sich dann ein Zentimetermaß geben und legte es an die Wunde. Er krauste die Stirn, sagte aber nichts. Dann wandte er sich der Leiche Pierre Kinns zu. »Das Weiße ist Bindegewebe, das ist klar. Aber was ist das gelbe, diese Schlieren?«
»Ramamacht das Frühstück gut«, erwiderte Wiedemann.
»Sonst noch ein Stoff?«
»Ja, hochtoxisch. Das ist das Einzige, was wir bisher wissen. Wir werden draufkommen, fragt sich nur wann.«
»Wenn es hochtoxisch ist«, murmelte Rodenstock und starrte weiter durch das Vergrößerungsglas, »können wir davon ausgehen, daß der sehr genaue Schuß unwesentlich war. Hauptsache, er traf. Er mußte nur irgendwo Blutbahnen treffen, dann setzte eine Vergiftung ein, sehr schnell, sehr kraß. Ich würde dir raten, die Autopsien noch heute nacht durchzuziehen – falls du jemanden im Staatsdienst findest, der Nachtschicht schieben will.« Er grinste.
»Du hast doch einen Hintergedanken«, sagte Wiedemann schnell.
»Habe ich auch«, nickte Rodenstock. »Rama macht Sinn, Rama bindet Flüssigkeiten, aber auch Körniges. Du kannst Flüssiges unter Margarine verstecken, verstehst du?«
»Und die Waffe?«
»Hm«, murmelte Rodenstock. »Gibt es hier ein Waffengeschäft?«
»Ja«, sagte ich. »Gleich um die Ecke.«
»Dann laßt uns gehen«, forderte er knapp und zog sich wieder an. Er sagte kein Wort mehr, war vollkommen in sich selbst versunken.
»Er hat es schon«, flüsterte Wiedemann.
In dem Geschäft war ein junger Verkäufer, der uns freundlich entgegenlächelte.
»Junger Mann«, begann Rodenstock, »was halten Sie von einer Armbrust?«
»Oh«, sagte der und grinste, »verteufelt gute Sache. Wir haben da neuerdings die Panzer II. Darf ich Ihnen das zeigen?«
Der junge Mann verschwand, und Rodenstock trommelte leicht nervös auf die Glasfläche des Verkauftresens. Der Junge kam mit einem großen Pappkarton zurück und öffnete ihn. »Das hier ist Panzer II. Ein Glasfiberbogen, Duran heißt das Zeug, mit 70 Kilogramm Zuggewicht. Wir haben ein Zielfernrohr. Die Waffe ist auf 40 Meter absolut punktgenau. Und sie entwickelt eine Wahnsinnsdurchschlagskraft.« Er strahlte, er war stolz.
»Kann ich die kaufen? Ohne Waffenschein?«
»Selbstverständlich, die ist waffenscheinfrei.«
»Aber das Ding ist doch absolut tödlich«, mahnte Rodenstock milde.
»Das kann man wohl sagen«, trumpfte der Verkäufer auf. »Sie sollen irgendwann waffenscheinpflichtig werden. Deshalb haben wir dieses Jahr auch schon sechs oder acht von den Dingern verkauft.« Er beugte sich leicht vor. »Ich lasse sie Ihnen für einen glatten Tausender.«
»Mit was schießt man denn?« fragte Rodenstock.
»Aluminiumpfeile, rund, vorne ein Vierkantprofil.«
»Das Pfeilchen will ich sehen«, bat Rodenstock begeistert.
»Selbstverständlich«, nickte der junge Mann. Er kam mit einem Karton wieder, öffnete ihn und ließ die Pfeile über die Theke rollen. Sie waren stark, daumendick und etwa 25 Zentimeter lang.
»Wie macht man das denn?« erkundigte sich Rodenstock.
»Ganz einfach«, erklärte der junge Mann. »Hier vorne ist eine Schlaufe, da stellen Sie den Fuß rein. Dann greifen Sie den Bogen, spannen ihn und klinken ihn ein. Dann legen Sie einen Pfeil in die Führung, und ab geht die Post. Wenn man das übt, erreicht man eine erstaunlich schnelle Schußfolge.«
»Machen Sie das mal vor«, sagte Rodenstock.
Der junge Mann führte es vor, und es sah einfach aus. Schließlich legte er einen Pfeil ein.
»Darf ich mal?« lächelte Rodenstock.
»Aber sicher, nur bitte nicht auf irgend etwas, was hier rumliegt oder so. Oder vielleicht nur zielen oder so...« Jetzt wurde der Verkäufer unruhig, aber es war zu spät.
Rodenstock hob die Waffe sehr professionell, linste durch das Zielrohr. Es gab einen sehr matten Laut, ein kurzes, kaum wahrnehmbares ›Pflop‹, dann federte der Pfeil in der Wandtäfelung. Von den 25 Zentimetern waren nur noch etwa sieben Zentimeter zu sehen.
»Das tut mir leid«, sagte Rodenstock in die Stille.
»D... d... das ist halb so wild. Kann man ja was vorstellen«, stammelte der Verkäufer. Er war einige Schattierungen blasser.
»Das ist es«, nickte Wiedemann. »Haben Sie eine Liste der Leute, die so eine Waffe gekauft haben?«
»Nein«, entgegnete der Verkäufer. »Wozu?«
»Richtig, wozu«, murmelte Wiedemann. »Aber Sie kennen doch sicherlich einige der Käufer privat, oder?«
»Ja, zwei, drei«, sagte der junge Mann.
Wiedemann zeigte ihm seine Marke. »Schreiben Sie die Namen auf, und schweigen Sie gegenüber jedermann.«
»Ach so, ja«, meinte der junge Mann verwirrt. »Von denen schießt aber doch keiner... ach, du lieber Gott.« Er hatte verstanden.
»Wir schreiben schnell den Hersteller an«, schlug Rodenstock vor. »Dann können wir so ein Ding kriegen. Es ist ganz einfach: der Täter schoß und sammelte die beiden Pfeile wieder ein.«
»Ich müßte mich aber noch erkundigen«, sagte der Verkäufer zaghaft. »Ich weiß manchmal nur die Vornamen.«
»Dann tun Sie das«, lächelte Wiedemann. »Ich schicke morgen jemanden vorbei. Und bemühen Sie sich bitte um jeden Käufer.«
Wir gingen hinaus in die Sonne.
»Das entlastet den bogenschießenden Ehemann aber nicht«, erklärte Wiedemann.
»Und das Alibi?« fragte ich.
»Das Alibi scheint wasserdicht«, gab Wiedemann zu. »Eigentlich zu dicht. Noch nie hat sich der Mann mit der Frau des anderen getroffen. Aber ausgerechnet gestern abend mußte er das tun. Und gleich über viele Stunden.
Irgend etwas riecht. Aber ganz dringend, Baumeister: Nicht schreiben, keine Informationen weitergeben. Versprochen?«
»Na sicher«, sagte ich. Einige Sekunden war ich versucht, ihm von der Jagdhütte zu berichten. Aber ich ließ es sein. Ich kenne die Vorgaben einer Mordkommission in bezug auf Medienleute sehr genau, und Wiedemann war bisher mehr als großzügig gewesen. Nicht etwa, weil ich der Baumeister war, sondern ein Freund des alten Rodenstock. Es konnte geschehen, daß er von einer Sekunde zur anderen zuklappte wie eine Auster – und es würde geschehen. Irgendwann würde er entsetzt begreifen, daß er ausgerechnet einen Journalisten zum Vertrauten gemacht hatte. Keiner von ihnen kann das vertragen.
»Gehen wir ein Eis essen?« fragte Rodenstock unternehmungslustig.
»Ich nicht«, sagte Wiedemann. »Ich habe Schicht.«
Also mummelte ich brav ein Eis mit Rodenstock, ehe wir uns auf den Heimweg machten.
Im Wagen fiel ihm plötzlich ein: »Dieser Tote ist also Banker, und die Liebesgeschichte lief zwei Jahre. Beruflich muß er schon längst tot gewesen sein, oder?«
»Das war er durchaus nicht«, erzählte ich. »Im Gegenteil, er zog das Lieblingskind des Sparkasssenchefs durch: Ein sogenanntes Erlebnisbad namens Tropicana mit Restaurant, Hotel und allen Schikanen. Angeblich hat er dem Bankboß seine Kündigung angeboten, angeblich hat der Bankboß gesagt: Deine Liebesgeschichten gehen mich nichts an, und...«
»Das ist doch verlogen«, dröhnte Rodenstock.
»Sie sagen es. Was passiert mit einem Banker, der so eine Affäre hat?«
»Banken sind konservativ. Mag sein, daß ein Banker in der Großstadt mit einer solchen Affäre eine Weile leben kann. Hier auf dem Land ist das unmöglich. Er kann sich scheiden lassen und die Geliebte heiraten. Dann kommt er mit schweren Schürfwunden davon. Die Regel ist aber, daß er beruflich aufgeben muß. Wir sollten uns also gelegentlich fragen, wieso Pierre Kinn noch Banker war, als er starb.«
Rodenstock richtete es sich in seinem Autositz gemütlich ein und starrte hinaus in den Wald. »Vielleicht«, sagte er nach einer Weile tonlos, »vielleicht konnte dieser Pierre gar nicht entlassen werden und wurde deshalb erschossen.«
Drittes Kapitel
Rodenstock stellte fest, daß er müde sei, und verschwand in seinem Bett. Ich nahm an, daß die unternehmungslustige Soziologin noch eine Weile brauchen würde, und machte mich auf die Reise zu Charlie.
Charlie residierte zur Zeit in seinem Haus in Monschau, wobei nicht klar war, ob dieses Haus überhaupt noch sein Eigentum war. Charlie besaß dem Vernehmen nach rund zehn Häuser, von Nizza über Rom bis zu den kleinen Antillen, Köln und der Eifel. Er ließ die Häuser munter rotieren, verkaufte mal eines an einen Kumpel, dann wieder an sich selbst, dann wieder überschrieb er es seiner Frau – das richtete sich danach, wieviel Bares er brauchte. Es war durchaus vorgekommen, daß er an einem Tag drei Mietshäuser kaufte, am nächsten Tag total Pleite war und sich das auch notariell beglaubigen ließ. Wiederum einen Tag später setzte er locker seine Unterschrift unter einen Wechsel über zwei Millionen, und der Wechsel platzte nicht. Charlie, das war ganz sicher, war der absolute Schrecken aller Finanzämter.
Charlie trug ständig, selbst in den Heiligen Hallen zu Bayreuth, Jeanshemden und darüber eine Weste aus Hermelin, das Ganze zu giftgrünen oder grellroten Jeans über handgenähten Schuhen aus London, die er bei jeder Gelegenheit von den Füßen streifte, weil er meinte, sie zu tragen, sei Buße für das ganze Leben.
Noch niemals hatte irgendein Mensch Charlie richtig arbeiten gesehen, er verfügte auch nicht über ein büromäßiges Gelaß. Das einzige, was er brauchte, war sein Telefon. Er notierte nie etwas, und böse Zungen behaupteten, das sei auch nicht möglich, denn er sei ein Analphabet. Leute, die ihn ernstnahmen, und deren Zahl überwog, stellten lapidar fest, er vergesse niemals etwas, weshalb er auch den Beinamen ›der Elefant‹ trug.
Von Charlie stammt die beste Definition des Kapitalismus, die ich je gehört habe. Eines Tages lärmte er volltrunken im Clubhaus des Golfplatzes, richtete sich mit wäßrigen Augen über die normalen 160 Zentimeter Körpergröße auf und erklärte in seiner unnachahmlich schlunzigen rheinischen Sprechweise, die mich an Heinrich Böll erinnerte: »Also, ich bin ein beschissener Kapitalist, wenn ich ein Hotel in die Eifel baue und dann hoffe, daß irgendein Reisender in Damenunterwäsche vorbeikommt und nach den Zimmerpreisen fragt. Aber wenn ich dreißig Männergesangvereine und den Hauptbetriebsrat von VW in Wolfsburg dazu kriege, ihre Kegelpartien und Jahresausflüge in meinem Hotel zu verbringen, küßt mir die Deutsche Bank den Arsch und kriecht vor Demut unter dem Teppich her. Dat, meine Damen und Herren, is Kapitalismus!«
Charlie, auch das war sicher, mischte in dem Hotel- und Badekomplex in Kyllheim mit, und sicherlich geschah nichts Wichtiges ohne ihn und sein Telefon.
Er hatte einen alten Bauernhof gekauft, der hinter einer haushohen Hecke aus Hainbuchen stand und so außerordentlich heimelig wirkte, als hätte Walt Disney ihn bauen lassen. Ein wenig abseits auf einem Rasenfleck standen ein Maserati und ein Mercedes S, weil Charlie niemals etwas anderes fuhr und von BMW behauptete, das seien Autos für Neureiche. Den Autos nach zu schließen, mußte er also vorhanden sein, wenngleich auch das Gerücht ging, er habe vor jedem Haus einen Maserati und einen Mercedes stehen.
Ich läutete und faßte energisch an die Türklinke. Es war allerdings keine Klinke, es war ein etwa zwei Kilogramm schwerer Amethystklumpen, und wahrscheinlich hatte nicht Charlie ihn anbringen lassen, sondern seine Frau, die im Golfclub auch gemeinhin ›Klunkerchen‹ genannt wurde, was durchaus zärtlich gemeint war.
Ein junges weibliches Wesen in einem strengen mittellangen schwarzen Kleidchen mit weißer Schürze und entzückend gestärktem Häubchen öffnete mir.
»Ich bin der Baumeister, ich muß dringend zu Charlie.«
Das erstaunte sie nicht weiter. Sie sagte: »Ich frage nach«, und ließ mich stehen. Dann erschien sie wieder: »Rechts die Treppe runter, geradeaus. Er ist in der Sauna.«
»Das riskiere ich.« Ich folgte ihren Anweisungen und mußte husten, als ich in den Nebel stolperte. Ich sah nichts, und augenblicklich begann ich zu schwitzen.
»Du ziehst dich am besten aus, Jung«, sagte Charlie von irgendwoher.
»Mache ich«, keuchte ich und tastete mich wieder hinaus. Ich zog mich aus und griff erneut an. »Charlie, ich komme wegen Pierre Kinn und Heidelinde Kutschera. Weißt du von ihrem Schicksal?«
»Na, sicher weiß ich dat. Ach, Baumeisterchen, wieso hast du auch so ein Scheißgewerbe? Du solltest meine Memoiren verfassen. Ja, Mensch, wie wäre es damit? Du schreibst meine Memoiren, ich bezahle dich gut. Aber ja, also der Pierre. Du hast sie gefunden, nicht?«
»Nicht ich, sondern Erwin.«
»Die Frau war allererste Sahne.« Charlie grunzte. »Aber es geht eben nicht an, daß jemand rumbumst und seine Kinder vergißt. Geht einfach nicht. War der Ehemann der Täter?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht ja, vielleicht nein. Glaubst du, es könnte jemand aus dem Club gewesen sein?«
»Sehr unwahrscheinlich«, entschied er. »Der Pierre Kinn war ein lustiger Typ, immer gut drauf. Na sicher, er weiß eine Menge über ein paar Clubmitglieder, schon wegen seines Berufes. Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß jemand hingeht und ihn mit einer Armbrust umlegt. Und die Frau gleich dazu.«
»Wieso weißt du das mit der Armbrust?«
»Seit einer Stunde. Die Vögelein haben es mir berichtet. Armbrust stimmt doch, oder?«
»Im Ernst, wer hat es dir gesagt?«
»Da ist jemand im Morddezernat, der mal Wirtschaftssachen gemacht hat. Der ist mir was schuldig. Versuch nicht, ihn rauszukriegen. Was denkst du?«
Langsam konnte ich ihn erkennen, langsam schälten sich seine Umrisse heraus. Bis jetzt hatte ich gestanden, jetzt setzte ich mich auf einen Schemel. Charlie lag nackt auf einer Holzbank. »Es sieht alles nach einem Liebesdrama aus. Aber die Erschießung selbst war unheimlich perfekt. Das paßt nicht zusammen, verstehst du?«
»Verstehe ich nicht«, meinte der kleine fettige Berg auf den Holzlatten. »Stell dir vor, ein Ehemann ist stinksauer, dann erledigt er das vielleicht ganz cool. Oder er beauftragt jemanden. Ich sage dir: Ich würde jemanden beauftragen. Es gibt solche Leute, ich weiß das.«
»Was kostet das?«
»Du findest Kosovo-Albaner, die das für fünfhundert erledigen. Westeuropäer sind teurer. Bis zu zwanzigtausend. Aber gut.«
»Ein Eifler Handwerker, der einen Mordauftrag vergibt?« zweifelte ich.
»Warum nicht?« fragte er kühl. »Wir sind doch lernfähig. Im Ernst, Baumeister, das Motiv ist doch verdammt stark. Bei euch Pressefritzen kann man nie sicher sein. Endlich habt ihr ein Liebesdrama, dann wollt ihr eine Verschwörung daraus machen. Das ist doch unlogisch!«
»Kennst du den Tötungsvorgang? Ich meine, hast du dir genau berichten lassen?«
»Der Geschäftsführer hat was geschwafelt. Aber nichts Klares. Wie ist es abgelaufen?«
»Bahn sechzehn«, sagte ich und berichtete. »Und dann ging er seine Pfeile suchen und verschwand. Das ist nicht kühl, das ist unterkühlt. Ein eifersüchtiger Ehemann kann das gar nicht. Kommt hinzu, daß der Mörder mit irgendeinem Gift arbeitet, das wir noch nicht genau kennen.
Das setzt eine verdammt lange Planung voraus, denn Gifte – egal welche – kannst du nicht in der nächsten Apotheke kaufen.«
Charlie lachte leise und sehr satt. »Warum kann ich das nicht, Baumeister? – Sei ganz sicher, daß eine Schubkarre Bares dein ganzes Lebensbild verändert. Wenn das Wort ›cash‹ aufkommt, ist das ganze Abendland im Eimer, mein Guter. Nee, nee, Baumeister, Liebe ist Liebe, ich sehe nichts anderes. Ich will ja meinen eigenen Golfclub nicht niedermachen, aber einen Mörder sehe ich da nicht, soviel Intelligenz könnten wir auch nicht gebrauchen. Lang mal auf das Regal da. Da steht eine Pulle.«
Ich goß ihm etwas von dem Whisky ein und reichte ihm das Glas. »Hattest du jemals mit Pierre Kinn beruflich zu tun?«
»Sicher. Laufend in den letzten zwei Jahren. Er hat das Tropicana gesteuert, er hat es verdammt gut und straff gemacht. Der Junge hatte Talent. Zwar noch ein paar Stellen, die zu weich waren, aber das hätte sich gegeben.«
»Hättest du ihn angestellt?«
»Niemals. Ich hatte noch nie im Leben einen Angestellten fürs Geschäftliche und werde auch niemals einen haben. Irgendwann fangen sie alle an, den Chef zu hassen. Ich bin doch nicht verrückt! Aber der Junge war gut. Am Anfang hatten wir Schwierigkeiten mit der Finanzierung. Der Junge hat das schnell und effektiv gedreht. Richtig gut.«
»Hast du Kapital drin?«
»Ist das eine Frage oder ein Verdacht?« Er kicherte plötzlich im Falsett.
»Eine Frage, Charlie, nur eine Frage.«
»Ich habe Freitag meine Einlage rausgenommen. Aber das hat mit Pierre Kinn und seiner schnuckeligen Geliebten nichts zu tun.«
»Womit hat es denn zu tun, Charlie?«
»Das ist schwer zu erklären. Ich hatte nicht viel drin, drei Festmeter, also drei Millionen. Ich habe sie rausgenommen, weil ich im Urin hatte, daß es nun genug ist.«
»Das ist mir zu schwammig. Was ist denn genau passiert?«
Charlie hielt die Augen geschlossen und die Hände brav auf dem weißen Bauch gefaltet. »Passiert ist nix, Baumeister. Wenn ich im Urin habe, daß ich rausgehen soll, gehe ich raus. Natürlich willst du wissen, warum ausgerechnet Freitag. Also, weil ich dachte, genug ist genug. Und weil es was anderes gab, was mir besser erschien.«
»Du kannst aber doch nicht einfach mit drei Millionen aus so einem Objekt rausgehen. Die sind doch verplant, mit denen wird kalkuliert.«
»Freitag endete die zweite Finanzierungsstrecke. Ganz offiziell. Und weil jemand anders bereit war, meine drei zu ersetzen, habe ich sie rausnehmen können. Ganz einfach. Niemand ist nervös deswegen. Außerdem mag ich Hotels nicht. Ich bin mal mit einem baden gegangen. Sowas merkt man sich.«
»Hast du mit den drei Millionen gut verdient?«
»Peanuts. Aber was tut man nicht alles für die Eifel.«
»Du hättest dein Geld aber nicht abgezogen, wenn die Sache bombensicher ertragreich sein würde, oder?«
»Ein bombensicheres Geschäft gibt es in dieser Milchstraße nicht mehr«, erklärte Charlie voller Verachtung. »Vielleicht noch hier und da in alten Mafiakreisen, aber die sind so gottverdammt elitär, daß sie dich niemals reinlassen, es sei denn, du hast ein paar gemeinsame Leichen im Keller.«
»Hast du Leichen im Keller?«
Er kicherte wieder hoch. »Selbstverständlich, Baumeister. Aber ich werde dir ihre Namen nicht sagen. Was ist? Schreibst du meine Memoiren?« Er wollte das Gespräch beenden.
»Sagst du mir Bescheid, wenn du irgend etwas erfährst?«
»Sicher«, nickte er milde, wobei klar war, daß er allein entscheiden würde, ob und was er mir sagte. Er war ein kleiner, fetter, sehr mächtiger reicher Mann, runde sechzig Jahre alt und kaum zu überlisten. Das alles wußte er sehr genau.
Vom Hohen Venn her blies ein kühler Wind, der Winter kämpfte gegen die Sonne. Klunkerchen kam in einem mausgrauen Trainingsanzug um die Ecke und winkte aufgeregt. Sie sah aus wie eine Sozialhilfeempfängerin, die die Hoffnung aufgegeben hat, das Leben zu treffen. Aber sie war ausgesprochen guter Dinge, und alles an ihr bebte und wogte. Sie war so dick wie ihr Mann und ebenso angriffslustig, und man sagte, sie bei schlechter Laune anzutreffen sei unwahrscheinlicher als ein Lottogewinn.
»Baumeisterchen, wie steht es um die Morde? Verrat mal, was du weißt.«
»Sie sind tot, mehr weiß ich auch nicht. Was erzählen deine zahllosen Schwestern, alle die Wißbegierigen?«
Sie hatte plötzlich ein kummervolles Gesicht. »Liebe, sehr viel Liebe – aber aussichtslos. Irgendein Schwein hat es gemacht. Die meisten tippen auf einen bezahlten Killer, weil es so grausam gelaufen ist. Ich mochte den Pierre irgendwie. Er war ein Filou, aber ein guter. Der Mann von der Heidelinde scheint ein ganz Cooler zu sein. Möglich, daß der dahinter steckt. Es ist irgendwie blödsinnig, die Hauptdarsteller abzumurksen. Das Stück ist dann zu Ende. Was sagt mein Charlie?«
»Das meiste, was er weiß, sagt er nicht.«
»So ist er nun mal. Hast du dich mal mit Pierre oder Heidelinde unterhalten?«
»Niemals«, sagte ich. »Andere Welten. Und du?«
»Ich habe mal mit ihr ein Stück Torte gegessen. Im Clubhaus. Sie war aber ziemlich schweigsam. Damals waren sie gerade aus Hawaii zurück und schwammen im Glück.«
»Sie waren in Hawaii?«
»Ja, wußtest du das nicht? Also, sie waren zusammen in Hawaii. Wie ich so mit ihr Kuchen esse, kommt Piere um die Ecke und sagt ganz versunken, mehr zu sich selbst, was H. J. U. wohl sagen würde, wenn er das wüßte. Dann sah er mich und schwieg natürlich.«
»Wer ist H. J. U.?«
»Wahrscheinlich sein Chef, Hans-Jakob Udler.«
»Wann war denn der Hawaii-Trip?«
»Im Sommer vor einem Jahr, als alles anfing. Stimmt die Sache mit dem Wasserbett mitten im Wald?«
»Ich weiß es nicht, das wird überprüft. Hast du eine Ahnung, warum dein Mann sein Geld aus der Kyllheim-Geschichte genommen hat?«
»Ich weiß nur, daß er in solchen Sachen einen Riecher hat. Und meistens hat er recht.«
»Ruf mich an, wenn du etwas erfährst.«
»Mache ich«, nickte Klunkerchen, und sie würde es wohl wirklich tun.
»Noch eine Frage. Haben die beiden Hawaii damals hier gebucht, also in der Eifel?«
»Das weiß ich nicht, aber das ist doch egal.«
»Das ist nicht egal«, sagte ich. »Mach es gut. Weißt du, ob Walburga zu Hause ist?«
»Weiß ich nicht. Aber sie hat bestimmt wie immer Migräne. Es ist wurscht, ob ihr ein Liebhaber abhaut oder das Heizöl zu spät kommt: sie hat Migräne.«
Ich brauste los Richtung Walburga, von der erzählt wurde, sie habe mit großem Erfolg vier sehr reiche Männer überlebt und sei dabei immer vergnügter geworden. Sie mußte ebenfalls an die Sechzig sein, war gute zehn Zentimeter größer als ich und hätte bei den ollen Römern sicher den Spitznamen ›Faba‹ geführt, was Bohnenstange heißt. Kein Mensch wußte, warum sie Mitglied im Golfclub war, denn Golfspielen war nicht ihre Sache, weil sie den Ball zu ihren Füßen nicht mehr erkennen konnte. Sie spielte trotzdem eine gewichtige Rolle im Club, und niemand traf eine wirklich wichtige Entscheidung, ohne Walburga zu hören. Es ging die indiskrete Sage, daß sie mindestens zwei Herren aus dem Club eine Weile in ihrem Bett besichtigt und ihnen zudem Kredite zu enorm günstigen Zinsen zugespielt hatte. Ob das der Wahrheit entsprach, wußte keiner genau, aber derartige Gerüchte sind so edel, daß Wahrheitsgehalte keine Rolle spielen.
Ich fuhr also die B 258 zurück Richtung Blankenheim und bog in Sistig nach Nettersheim ab. Walburga hatte ein ziemlich umfangreiches altes Gasthaus gekauft und umrüsten lassen, was heißt, daß sie mindestens zwanzig Gästezimmer in jeweils verschiedenen Farben installiert hatte. Kein Mensch verstand, warum sie so scharf auf Gäste war und das Haus ständig voll hatte, denn sie ging mit ihren Gästen um wie ein Dorfschullehrer um 1900 mit den Erstkläßlern.
Das Haus war ein Granitbau und wirkte abweisend. Auf dem Kies davor standen mindestens fünfzehn Autos der oberen Klasse, und es war totenstill. Jemand hatte erzählt, Walburga zwinge ihre Gäste täglich zu Bridgepartien und niemand mogele so offensichtlich wie sie, aber es sei streng verboten, das zu merken.
Ich schellte, und es rührte sich nichts. Die Tür war offen, also trat ich ein. Es roch intensiv nach Bohnerwachs, und der Holzboden spiegelte so extrem, daß man auf die Idee kommen konnte, man habe seine Schlittschuhe vergessen.
»Hallo!« rief ich.
Jemand erwiderte betulich: »Hallo«, und kam herbeigeschlurft. Es war ein sehr alter dürrer, lächelnder Mann, der sich vor mir aufbaute, sich nach vorn beugte wie ein Japaner und ergeben murmelte: »Ich bin Hansi, einer ihrer Verblichenen.«
»Ich bin Baumeister. Wo ist sie denn?«
»Sie hat eine neue Allergie entdeckt. Es sind Ärzte bei ihr. Fünf oder sechs, was weiß ich. Das wird eine Weile dauern.«
»Ich habe keine Weile Zeit. Können Sie ihr ausrichten, Baumeister ist hier und es geht um den Pierre?«
»Ich versuche es«, sagte er wildentschlossen.
Ich hockte mich in einen alten schwarzgelackten Stuhl, der irgendwann im Mittelalter vermutlich als Folterinstrument gedient hatte.
Es dauerte ungefähr zwanzig Minuten, dann kam Walburga, weiß in Seide, steif wie ein Stock, die Treppe hinunter, geführt von einem etwa zwanzigjährigen jungen Mann mit sehr hellen Augen, der so aussah und sich so gebärdete wie die, die man bei den alten Griechen Epheben genannt hatte. Er ging leicht seitlich hinter ihr und bemühte sich, den Eindruck zu erwecken, als sei jede Stufe für seine Schutzbefohlene ein lebensgefährliches Hemmnis.
»Herr Baumeister«, stellte Walburga mit tiefer Stimme fest. »Ich vermute, Sie wollen mir Fragen stellen, die ich ohnehin nicht beantworten kann.«
»Ich habe eigentlich nur eine Frage«, erklärte ich. Der junge Gott machte mich unsicher. Er hatte so einen Ausdruck totaler Verachtung in den Augen.
»Fragen Sie ruhig«, nickte Walburga und erreichte die unterste Stufe.
»Das geht nicht«, sagte ich stur. »Es ist vertraulich. Es geht Sie an und mich und niemanden sonst.«
Der junge Gott erstarrte.
»Ich will mir keinen Hundertmarkschein pumpen«, beruhigte ich ihn.
Der junge Gott rührte sich nicht, und Walburga lächelte maliziös. »Er würde wirklich nichts annehmen.«
»Ich bleibe lieber«, bekannte der junge Gott.
»Es ist aber eine Vorstellung für Erwachsene«, sagte ich.
Der junge Gott war sehr beleidigt. »Walburga«, klagte er, »wir haben ausgemacht, daß ich dich beschütze. Immer.«
»Nun hör mal eine Weile auf damit«, meinte sie zärtlich.
Ich hatte einen Feind fürs Leben gewonnen. Er schlich die Treppe hinauf wie Waldemar, des Försters Dackel, der nicht mit auf die Jagd darf.
»Legen Sie los«, sagte Walburga. Sie blieb stehen.
»Ich war bei Charlie und Klunkerchen«, begann ich. »Sie wissen nichts, oder sie sagen nichts. Das ist auch in Ordnung. Klunkerchen erzählte nur, Pierre Kinn und Heidelinde Kutschera seien zusammen in Hawaii gewesen und...«
»Das ist richtig«, nickte sie. »Vier Wochen. Was ist daran schrecklich? Sie liebten sich, sie wollten irgend etwas neu beginnen, sie hatten eine Chance. Da ist Hawaii doch wunderhübsch, nicht wahr?«
»Das ist richtig«, sagte ich. »Aber...«
»Sehen Sie mal, Baumeister«, unterbrach sie mich nachdenklich, »es ist doch so im Leben. Erst sind wir arm und sparen, dann sind wir gesättigt und sparen noch immer. Dann begreifen wir, daß wir nichts vom Sparen haben. Dann hängen wir uns die Klunker auf die welke Haut und hoffen auf ein Wunder, nicht wahr? Pierre und Heidelinde waren jetzt jung, und sie brauchten Hawaii jetzt, nicht irgendwann. Ist das so schwer zu verstehen?«
»Durchaus nicht«, murmelte ich. Sie war eine kluge Frau. »Es stellt sich nur eine Frage. Sie waren beide verheiratet, hatten beide Kinder, und sie verdienten gut. Aber wer, um Gottes willen, kann dreißig- oder vierzigtausend Mark ausgeben, um vier Wochen nach Hawaii zu verschwinden? Woher ist das Geld gekommen?«
Walburga sah mich an und lächelte. »Von mir«, sagte sie einfach. »War das alles?«
»Nicht ganz«, sagte ich hastig. »Hatten Sie auch Geld im Kyllheim-Projekt?«
»Nicht eine müde Mark«, behauptete sie. »Wenn Charlie drin ist, gehe ich nicht rein. Sowas mache ich nicht. Er ist ein bißchen schmuddelig, und er erzählt immer dreckige Witze.«
»Können Sie sich vorstellen, wer Pierre und Heidelinde getötet hat? War das wirklich nur eine Liebesgeschichte?«
»Das frage ich mich, seit ich davon gehört habe.«
»Lassen Sie mich eine andere Frage stellen. Haben Pierre und Heidelinde sich Ihnen anvertraut?«
»Das haben sie, aber darüber rede ich nicht. Eigentlich war es absolut nichts, was ihre Ermordung rechtfertigen würde.«
»Wollten die beiden die Eifel verlassen?«
»Das ist mir nicht bekannt. Sie wollten aus dem Bereich Hillesheim-Daun weggehen, aber nicht weit.«
»Sie meinten es also ernst miteinander?«
»Todernst«, murmelte Walburga. Dann geschah etwas Bedrückendes, sie begann lautlos zu weinen.
»Es tut mir leid, ich wußte nicht, daß sie Ihre Schützlinge waren.«
»Ist schon in Ordnung«, schnaufte sie. »Es ist so elend, zu lieben und dafür getötet zu werden.«
»Haben die beiden sich bedroht gefühlt?«
Walburga ging schnell auf ein Fenster zu und starrte hinaus. »Es wird kühl«, meinte sie. »Dann kommt der Winter, alles geht schlafen. Nur ich kann nicht mehr schlafen.« Sie wandte sich mir wieder zu. »Wenn so etwas geschieht, fragt man sich verzweifelt, ob man sich an irgendeine Bemerkung erinnern kann, die auf eine Bedrohung schließen läßt. Ist die Polizei gut?«
»Ich denke, ja. Die Mordkommission ist schnell, und außerdem ist der alte Rodenstock bei mir zu Besuch, ein Profi.«
»Sind die menschlich?«
»Sehr.«
»Werden sie hier auftauchen?«
»Mit Sicherheit. Ebenso wie meine Kollegen von der schreibenden Zunft. Und die vom Fernsehen. Die Geschichte riecht nach Drama, und Dramen werden gefressen.«
»Sollte ich wegfahren? Was meinen Sie?«
»Ich würde Ihnen raten, selbst die Mordkommission zu rufen. Dann haben Sie es hinter sich, werden nicht gesucht und können verschwinden. Sagen Sie mir, wohin?«
Sie lächelte. »Ich werde einen Monat früher nach Chamonix gehen als sonst.«
»Sie wollten noch etwas sagen zu der Frage möglicher Bedrohung.«
»Sie sind ekelhaft beharrlich«, sagte sie und drehte sich wieder zum Fenster. »Da war eine Bemerkung von Heidelinde. Die beiden waren hier, weil sie hier Zusammensein konnten, ohne sich verstecken zu müssen. Heidelinde sagte zu Pierre: Wenn unser Baby das erfährt, schleift er die Messer. Sie lachten beide. Das ist alles.«
»Baby?... Haben Sie sonst den Mäzen gespielt, irgend etwas finanziert, irgendwie geholfen?«
»Ich habe ihnen eine Jagdhütte bei Bleialf geschenkt.«
»Geschenkt? Das waren Sie?«
Walburga drehte sich nicht um. »Was soll ich mit einer Jagdhütte? Ich habe sie damals einem Freund abgekauft, als der klamm war. Ich bin keine Jägerin, und Bambis im Wald finde ich lächerlich. Also habe ich die Hütte der Heidelinde geschenkt. Ganz offiziell mit Papieren. Falls etwas geschieht: Würden Sie mich anrufen? Ich gebe Ihnen die Adresse in Chamonix.«
Ich reichte ihr meinen Block und Schreiber, und Walburga schrieb die Adresse auf. Dann reichte sie mir die Hand. Es war so, als wollte sie mich zu ihrem Verbündeten machen. Sie murmelte: »Verurteilen Sie die beiden nicht. Sie hatten anderes verdient.«
»Schon gut«, meinte ich und ging.
Ich hockte mich in meinen Wagen und schrieb erst mal auf, was Charlie, Klunkerchen und Walburga erzählt hatten, ehe ich mich auf die Heimreise machte.
Es war sehr kühl geworden, und plötzlich war ich müde.
Rodenstock saß mit der Soziologin am Küchentisch und sagte gerade: »Sieh mal an, da studieren Sie und wissen, daß es keinen Job geben wird. Wie lebt man damit?«
»Beschissen«, antwortete die Soziologin trocken.
»Ich grüße euch«, gesellte ich mich zu ihnen. »Haben Sie die Hütte gefunden?«
»Kein Problem«, sagte sie. »Eine richtig schöne Hütte mit einem richtig schönen Kamin und einem Wasserbett und mit überhaupt allen Schikanen. Keiner weiß so richtig, wem sie gehört.«
»Ich weiß es«, erwiderte ich. »Waren Sie drin?«
»Nein«, sie schüttelte den Kopf. »Ein Waldarbeiter turnte da rum. Der hat erzählt, was er wußte.«
»Wir haben einen dritten Toten«, berichtete Rodenstock. »Die gleiche Tötungsart. Ein alter Witwer, ein Bauer, der zwischen dem Golfplatz und Birgel neben einem Waldweg gefunden wurde. Der Mann war über Siebzig. Vermutlich mußte er sterben, weil er dem Mörder begegnete.«
»Stimmt der Zeitpunkt?« fragte ich.
»Exakt«, nickte Rodenstock. »Gestern abend, etwa gegen 18 bis 20 Uhr.«
»Sind Reifenspuren gefunden worden? Das Genie Wolf müßte doch irgend etwas entdeckt haben.«
»Hat er«, bestätigte er. »Der Mörder hat etwas genial Einfaches gemacht: Er hat Schneeketten aufgezogen. Es ist unmöglich, auch nur den Hauch einer Reifenspur zu bestimmen.«
»Es wird immer perfekter.«
»Das schon«, meinte er. »Aber es zeigt auch Risse. Es zeigt dir, daß die Liebesgeschichte nicht so wichtig war. Es muß ein ganz anderes Motiv geben.«
»Aber Liebe ist doch ein schönes Motiv«, murrte die Soziologin.
»Richtig«, fand ich. »Fast zu schön, um wahr zu sein. Ich erzähle mal, wenn ich darf. Ich habe nämlich Nachrichten aus Hawaii.«
»Nur zu«, ermunterte mich Rodenstock. »Oder sollen wir Wiedemann dazu holen? Dann brauchen Sie es nicht zweimal zu berichten.«
»Das ist eine gute Idee«, sagte ich. »Sagen Sie mal, kann eine Soziologin kochen?«
Dinah Marcus strahlte mich an. »Die hier nicht. Ich würde Ihnen auch nicht raten, das herausfinden zu wollen. Ich habe bereits ganze Familien auf die Intensivstation gekocht.«
»Die großen deutschen Hausfrauenwerte zerfallen!« seufzte Rodenstock. »Was ist, wenn wir zu Wiedemann ins Hotel gehen?«
»Gute Idee«, meinte die Soziologin. »Ich habe seit gestern nichts Vernünftiges mehr gegessen.«
»Das hebt die Figur«, sagte ich. »Liegt die Jagdhütte einsam?«
»Total. Kein Mensch kann im Grunde kontrollieren, wer ein- und ausgeht. Nachts, das habe ich herausgefunden, kann man von der Ortschaft aus nicht mal die Scheinwerfer der Autos sehen. Das liegt daran, daß die Hütte oberhalb eines Hohlwegs liegt und ganz verstellt ist von jungen dichten Hainbuchen. Und außerdem sagte eine alte Frau, spukt es da oben.«
Wir fuhren also nach Hillesheim ins Augustiner Kloster. Wiedemann war anfangs sehr muffig, weil er zum Umfallen müde war.
Ich berichtete, was ich herausgefunden hatte, und verschwieg nichts.
Wiedemann schickte sofort zwei seiner Leute aus zu Charlie und Walburga. Er murmelte: »Die Hütte hat Zeit bis morgen.«
Wir aßen lustlos etwas, das den Namen Hirschgulasch trug und fade schmeckte. Dann trennten wir uns.
»Haben Sie zufällig Vivaldis Vier Jahreszeiten?« fragte Rodenstock, als wir wieder zu Hause waren.
»Habe ich.« Ich schob die CD ein.
Die Soziologin hatte sich vor den Fernseher gesetzt, die Kopfhörer übergestülpt und sah Nachrichten. Nach einer Weile zupfte ich die Kopfhörer beiseite und fragte: »Ist das Schloß kompliziert?«
»Nicht sehr«, antwortete sie nicht im mindesten überrascht. »Es ist ein dickes Vorhängeschloß. Wenn Sie vielleicht einen Seitenschneider haben?«
»Habe ich«, sagte ich.
Rodenstock wollte nicht mit uns fahren. Er meinte, auch ein pensionierter Beamter dürfe nicht so ohne weiteres irgendwo einbrechen. »Aber ich verpfeife euch nicht.«
Wir luden also die Werkzeugkiste in den Jeep und machten uns auf den Weg. Wir fuhren über Lissendorf, Steffeln, Schwirzheim auf die B 51 und dann über die Schnellstraße an Prüm vorbei.
»Wie kann man um Gottes willen mit Ihrem Beruf in der Eifel hängen?«
Die Soziologin kicherte. »Ich wollte mich selbst entdecken. Jetzt fahre ich für den Erzbischof in Trier die Bistumszeitung aus, beaufsichtige am Wochenende Mehrfachsüchtige in einer Klinik und denke darüber nach, wer ich bin. Im Ernst, es gefällt mir, aber es ernährt mich nicht. Ich will unbedingt eine Spur erwachsener werden und rausfinden, ob ich das will. Ist das schwer?«
»Ich weiß es nicht genau. Ich bin noch nicht erwachsen. Jemand hat mal depressiv geäußert: Wenn wir erwachsen geworden sind, ist es Zeit, sich auf den Tod vorzubereiten. Vielleicht findet man deswegen so wenig Erwachsene.«
»Wenn Sie diese Geschichte schreiben, haben Sie dann einen Abnehmer?«
»Ja, habe ich.«
»Kann man davon leben?«
»Manchmal ja, manchmal nein. Man tut gut daran, einen Gemüsegarten zu haben und eine Ecke für Kartoffeln.«
»Meine Eltern hatten früher Karnickel. Ich kann keine Karnickel mehr sehen. Und ich hasse Koteletts aus der Tiefkühltruhe. Aber wir leben sowieso fast vegetarisch.«
»Wer ist wir?«
»Na ja, diese Kommune in Niederstadtfeld.«
»Kommune in der Eifel klingt nach sittlichem Zerfall.«
»Wir sind aber genauso harmlos wie ein Haufen Pflastersteine. Nur der Pfarrer ist der festen Überzeugung, wir seien Kommunisten. Dabei haben wir alle Bausparverträge.« Sie lachte.
»Aber todsicher habt ihr alle ein zerrüttetes Privatleben, oder?«
»Zerrüttet irgendwie schon, aber schön. Sie müssen jetzt die nächste Ausfahrt nehmen, dann links ungefähr einen halben Kilometer. Oben auf der Kuppe dann rechts in den Wald.«
Anfangs ging es durch einen Tannenhochwald, dann wurde der Weg kurvenreich und schmal, rechts Krüppeleichen, links junge Buchen. Es folgten beidseitig Kiefernpflanzungen mit hohen Zäunen, eine Senke mit einem Bach, der laut schäumte, schließlich eine Steilstrecke in den Hohlweg.
»Jetzt scharf rechts«, dirigierte Dinah Marcus.
Ich schaltete die Scheinwerfer ein. Das Holzhaus lag geduckt unter einer Gruppe haushoher Buchen. Es sah so aus, als sei es aus der Erde gewachsen, und es hatte einen Hauch von Schneewittchen.
»Traumhaft«, seufzte die Soziologin. »Ich habe keine reichen Freunde.«
»Das kann sich ändern, bis Sie achtzig sind«, sagte ich. »Kommen Sie, wir schauen uns an, was wir tun können.«
»Was wird Wiedemann sagen, wenn wir hier einbrechen?«
»Ich möchte vermeiden, daß er es erfährt.«
Sie zuckte zusammen, als ein kurzer hoher Schrei erschallte.
»Schleiereule«, erklärte ich. »Wir müssen erst die Tür untersuchen.«
Das Vorhängeschloß hielt einen schweren handgeschmiedeten Riegel vor der Tür fest. Außerdem hatte die Tür ein Sicherheitsschloß.
»Das ist schlecht«, stellte ich fest. Das Fenster rechts davon war lückenlos in die Holzwand gefügt. Wahrscheinlich war es von innen verriegelt, und wahrscheinlich war nicht feststellbar, in welcher Höhe der Riegel saß.
»Haben Sie bei Tageslicht irgendeine Schwachstelle entdeckt?«
»Auf der Rückseite ist ein Fenster, an dem die Läden nicht schließen«, erzählte sie. »Da müßte es irgendwie gehen.«
Ich stopfte mir die Prato von Lorenzo und schmauchte eine Weile. »Also gehen wir hinten rein«, sagte ich. »Fahren Sie den Wagen mal auf die Rückseite, damit wir Licht haben.«
Ich nahm den Werkzeugkasten und ging um das Haus herum. Als die Soziologin den Jeep langsam zwischen drei Baumstämmen durchlotste, sah ich den VW-Polo neben einem Gebüsch stehen und wollte entsetzt abwinken. Es war zu spät.
Jemand atmete hinter mir und befahl zittrig: »Stehenbleiben.« Es war eine sehr junge Stimme, männlich. »Nicht umdrehen!«
Rechts von mir war eine zweite Figur, ungefähr zehn Meter entfernt.
Die Stimme hinter mir rief aufgeregt: »Wir haben ihn! Hol die Frau aus der Karre raus.«
Die Figur rechts von mir bewegte sich auf Dinah Marcus zu und riß die Tür auf. »Komm raus. Schluß jetzt.«
Dinah Marcus stieg aus, stand dann sehr still.
»Der hinter mir hat ein Gewehr oder sowas«, sagte ich laut. »Seien Sie ruhig, nicht nervös werden.«
»Es ist Schrot«, ergänzte die Stimme hinter mir. »Ich kann dich damit totblasen.«
»Sehr eindrucksvoll«, entgegnete ich. »Seid ihr von eurem Kindergarten geschickt worden?«
Es gibt Bemerkungen, die einfach dumm sind, meine war sehr dumm. Zuerst trat er mir mit aller Gewalt in den Hintern, dann schlug er zu und traf in die linke Halsbeuge. Es schmerzte ekelhaft.
»Marcus, seien Sie ruhig«, nuschelte ich.
»Scheißkerl«, zischte der hinter mir. »Du gehst allen auf den Wecker, sonst nichts.«
Ich kniete auf dem weichen Waldboden, und mein Kopf schmerzte sehr intensiv. Irgend etwas lief auf mein Hemd und war warm und klebrig.
»Baumeister«, die Stimme der Marcus war sehr schrill. »Was ist los?«
»Nichts«, sagte ich gepreßt.
Der, der bei der Marcus stand, fragte heftig: »Und jetzt?« Es klang ratlos.
Der hinter mir wußte keinen Rat. »Sind zwei Arschlöcher«, sagte er verächtlich. »Wußten wir doch. Abreibung reicht.« Er atmete jetzt schneller, er bereitete sich auf irgend etwas vor.
»Aber doch keine Frau«, sagte der andere ängstlich.
Ich spuckte ein bißchen Blut. »Wer eine Frau schlägt, bezahlt bar«, sagte ich undeutlich.
Der hinter mir verstand es gut, und er trat zwischen meine Beine. Er traf punktgenau, weil ich ohnehin kniete. Der Schmerz kam mir wie eine langgezogene Explosion vor. Der Schmerz blieb. Dann sah ich rechts von mir den Doppellauf des Gewehres auf dem Boden. Ich wußte, daß ich wahrscheinlich nur diese eine lächerliche Chance hatte. Ich beugte mich sehr tief hinunter und drückte mich nach hinten ab. Zwischen Körper und Oberschenkeln traf ich ihn und warf ihn zurück. Aber ich hatte erhebliche Schwierigkeiten, mich aufzurichten, weil es höllisch schmerzte. Ehe ich stand, war er über mir und drückte mich nach hinten. Er war sicherlich anderthalb Köpfe größer als ich und entschieden stärker. Seine rechte Hand lag auf meiner linken Schulter, und seine linke Hand kroch an meinem Hals entlang. Ich spürte Panik, ich lag flach auf dem Rücken, und unter meiner rechten Hand hatte ich den kühlen Doppellauf der Flinte. Ich griff sie und stieß ihm das Metall mit aller Gewalt in die Seite. Er schnappte nach Luft, und ich sah, wie seine Augen vor Schmerz ganz weit wurden. Dann war er schlaff.
Ich tauge nicht für Gewalt, ich tauge schon gar nicht für Gewalt gegen Kinder. Die Sekunden danach sind die Zeit der Scham, und sie sind bohrender als körperlicher Schmerz.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Scheiße!« Es wäre gut, sich auf den Waldboden zu legen und den Atem ruhig werden zu lassen. Es wäre gut, ihn zu bitten, ob wir vielleicht zusammen eine Zigarette rauchen könnten. Es wäre sehr gut, ihm sagen zu können: »Hör zu, du probierst das Leben aus, ich kann das verstehen.« Aber diese Welt funktioniert nicht so.
Ich stieß ihn von mir herunter, nahm die Waffe und richtete sie auf seinen Kumpel, der leicht seitlich versetzt hinter Dinah Marcus stand. »Komm her, Sauhund«, sagte ich. »Ich schieße, wenn du dich nicht beeilst.« Es erschreckte mich, als ich begriff, daß ich wirklich schießen würde.
»Ist ja nichts passiert«, stotterte er mit einer Kleinjungenstimme. Dann kam er langsam über die zehn Meter zu mir; er hatte Angst.
»Im Werkzeugkasten ist ein Strick«, sagte ich. Das Hemd klebte auf der Schulter, und es schmerzte höllisch, als es durch die Bewegung losriß. »Ich brauche ein Pflaster.«
»Ich hole alles«, sagte die Soziologin erstickt.
Der Junge, der auf mich zukam, war vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre alt. Er war schmächtig, trug Springerstiefel und einen Bundeswehrpullover.
»Setz dich auf den Boden«, befahl ich.
»Das Gewehr funktioniert doch gar nicht mehr richtig«, sagte er heiser.
»Das ist mir wurscht«, erklärte ich. »Was wolltet ihr hier?«
»Na ja, gucken, was in dem Blockhaus ist.« Es klang unsicher.
»Woher seid ihr?«
»Aus Daun.«
»Ihr seid also sechzig Kilometer gefahren, um nachzugucken, was hier drin ist. Mitsamt einer Schrotflinte.«
»Ja, klar«, nickte er.
»Erzähl das deiner Großmutter«, sagte die Marcus heftig. »Lassen Sie mal sehen, was da ist. – Die Haut ist gerissen, das sieht schlimm aus.«
»Nicht wichtig. Wir werden den Strick zerschneiden und sie fesseln. Dann holen Sie die Bullen: Wiedemann muß her.«
Wir fesselten ihnen die Hände auf den Rücken und packten sie nebeneinander auf den Boden. Der Bewußtlose begann sich zu rühren.
»Fahren Sie zum nächsten Telefon«, sagte ich zur Marcus. »Aber erst mal ein Pflaster auf die Wunde.«
»Das geht doch nicht. Sie müssen zum Arzt«, erwiderte sie ängstlich.
»Später«, entschied ich. »Erst mal ein Pflaster.«
Sie klebte mir ein Pflaster auf die Wunde und fragte sich dann laut, was geschehen würde, wenn ich aus irgendeinem Grund das Bewußtsein verlieren sollte. Als ich nicht darauf einging, fuhr sie lamentierend ab, nachdem sie den Polo der jungen Leute gedreht und seinen Scheinwerfer angestellt hatte. Es war ein Bild des Friedens: Der lädierte Baumeister und seine zwei gefesselten Hobbykriminellen.
»Kommen jetzt die Bullen?« fragte der Schmächtige.
»Und wie«, antwortete ich. »Wer hat euch geschickt?«
»Niemand«, behauptete er. »Wenn du die Stricke losmachst, haue ich auch nicht ab.«
»Was wolltet ihr denn wirklich?«
»In diese Hütte«, sagte er. »Da soll ein Fernseher sein und ein Videorecorder und solche Sachen. Wir wollten das verscheuern.« Das klang verblüffend glaubwürdig.
»Was ist mit deinem Kumpel? Kann er einen Auftraggeber haben?«
»Nein, das hätte der doch gesagt. Er hat nur gesagt, kann sein, daß Leute auftauchen. Aber Leute können überall auftauchen.«
»Wie heißt er denn?«
»Manni heißt er. Aber wir nennen ihn Bulle. Er ist stark.«
Der Bulle rührte sich, versuchte, sich an den Schädel zu fassen, was nicht gelang, und stöhnte dann. Er war übergangslos wach und fluchte: »Scheiße!«
»Wer hat dich geschickt?« fragte ich nun ihn.
»Niemand«, sagte auch er.
»Woher weißt du von dieser Hütte?«
»Hat jemand von erzählt. In der Stuw in Daun. Wir wollten nur gucken.«
»Er holt Bullen«, flüsterte der Schmächtige warnend.
»Von mir aus«, sagte der Bulle. »Wir haben schließlich nichts getan.«
»Du hast Bemerkungen gemacht. Du hast gesagt, ihr habt mich erwartet.«
»Nicht doch«, erwiderte er, und er lachte tatsächlich. »Klar, wir haben gedacht, jemand kann kommen, aber...«
»Du hast nicht an jemanden gedacht, sondern an mich«, sagte ich schnell.
»Ich weiß doch gar nicht, wer du bist! Ist mir auch scheißegal.«
»Du lügst«, brüllte ich.
»Warum soll er denn lügen?« fragte der Schmächtige schrill. »Wir haben hier nichts gemacht, wir sind ja nicht mal in die Hütte rein.« Er hatte recht.
Weil ich ein praktischer Mensch bin und dachte, daß Wiedemann eine Weile brauchen würde, um in diese tiefe Pampa zu gelangen, stand ich auf und marschierte um das Haus herum. Es war sehr still, der Himmel hatte sich bezogen, die Schwärze der Nacht war perfekt. Mit welcher Begründung konnte ich einbrechen? Etwa mit dem Verdacht, das Liebespaar habe ein paar Leichen in diesem Keller deponiert? Es gab keine vernünftige Begründung.
Als ich um die Ecke schlich, um zu meinen Gefangenen zurückzukehren, war die Nacht zu Ende. Der Schlag traf mich seitlich an den Kopf, und ich spürte nicht einmal, wie ich aufschlug. Ich schwamm durch ein sehr warmes Meer, und merkwürdigerweise brauchte ich nicht einmal aufzutauchen, um Luft zu bekommen. Es funktionierte einfach so, Baumeister war zu den Amphibien zurückgekehrt.
Dann explodierte irgend etwas, vermutlich ein Unterwasserfelsenriff oder dergleichen, ich spürte mich nicht mehr, taumelte endgültig im Bodenlosen. Ich erinnere mich undeutlich daran, daß ich ärgerlich war und mir sehnlichst wünschte, jemanden zu verprügeln, statt immer nur verprügelt zu werden.
Als ich aufwachte, lag ich auf etwas Weichem, jemand sagte: »Ganz ruhig, das haben wir bald.«
»Was haben wir bald?« fragte ich, aber vermutlich nahm man mich nicht ernst.
Die Soziologin bemerkte nicht ohne Hohn: »Also, wahrscheinlich hat er den Helden spielen wollen. Wahrscheinlich war er so lässig, daß die beiden bequem abziehen konnten.«
»Amateur«, sagte jemand voller Verachtung. Das war eindeutig Wiedemann.
»Habt ihr sie erwischt?« stammelte ich.
»Ja«, sagte Wiedemann. »Aber nur, weil ihr Auto streikte, nicht, weil Sie sie genagelt haben. Wie geht es?«
»Blendend.«
»Ihre Freundin hier hat dafür gesorgt, daß Sie Hilfe kriegen. Sie sollten ihr dankbar sein. Sie wollten hier einbrechen, nicht wahr?«
»Nicht doch«, meinte ich. Das rechte Auge konnte ich jetzt öffnen. Ich lag eindeutig in einem Ambulanzwagen, und es war angenehm warm.
»Sie haben ein ziemliches Schädeltrauma«, sagte jemand freundlich. »Was hat Sie denn getroffen?«
»Der Kolben einer Schrotflinte. Kann das sein?«
»Das kann sein«, antwortete er. Der Arzt hatte ein breites Vollmondgesicht. Er war der Typ, der ständig die ganze Welt umarmt, um darauf aufmerksam zu machen, wie liebevoll er zu den Menschen ist. »Ich habe Ihnen einen Verband gemacht und die Sache an der Schulter genäht. Sie müssen geröntgt werden.«
»Was ist denn in der Hütte?« fragte ich.
Wiedemann rauchte einen seiner schwarzen Stumpen, es nahm uns den Atem, der Arzt hüstelte abwehrend. »Eigentlich nichts. Es ist eben ein Liebesnest mit allem Drum und Dran. Zehn Hektoliter Körperlotion namens Moschus, ziemlich viel Sekt, zwei, drei Dosen Kaviar, ein paar Büchsen Cola, eine Riesenflasche Parfüm namens Moments, ein paar Liebesfilme auf Video und lauter solche Sachen.«
»Ich denke, wir müssen fahren«, mahnte der Arzt.
»Ich gehe zu Rodenstock und berichte«, erklärte die Soziologin kühl. Ihr Held war ich vermutlich nicht mehr.
»Bis später«, meinte ich. »Oder bleibe ich in der Klinik?«
»Ich denke, nein«, sagte der Arzt. »Wenn Sie versprechen, vernünftig zu sein.«
»Von der Sorte Versprechungen können Sie jede Menge haben«, versicherte ich. Ich war sehr müde, weil der Arzt vermutlich etwas Beruhigendes gespritzt hatte.
Ich wurde erst wieder wach, als sie mich schaukelnd einen hell erleuchteten Gang entlang trugen und einer der Sanitäter vorwurfsvoll klagte: »Und die Würstchen waren schon wieder nicht richtig heiß!«
Der andere schnaubte empört: »Kartoffelsalat können die Weiber überhaupt nicht.«
Ich wurde in einen schneeweißen Raum gefahren und wollte mich tapfer ausziehen. Doch da war ein Drachen, der das nicht duldete und mit Unteroffiziersstimme dröhnte: »Nun laß mich mal an die Buxe, ich kann dat viel besser.«
Dann karrten sie mich auf einen eiskalten Metalltisch, auf dem ich ruhig zu liegen hatte, und jemand beharrte wütend darauf, daß ich meinen Kopf in einem geradezu idiotischen Winkel hielt, obwohl das gemein wehtat. Irgendwann war es vorbei, und ein schmächtiger Weißkittel des Typs Wichtelmännlein erklärte: »Sie haben enormes Glück gehabt. Und nun wollen wir Sie mal rasieren.«
»Rasieren?« fragte ich zittrig. »Warum denn das?«
»Sie haben eine Kopfschwartenwunde, die müssen wir ein bißchen piksen. Und an der Stelle sind Haare, und da sollten keine sein.« Ich vermute, er ging oft mit Kleinen aus dem Vorschulalter um.
Sie kamen zu zweit und wirkten wie eine Abordnung der Marx-Brothers. Sie piksten mich ein bißchen und machten wichtige Gesichter. In einer auf Hochglanz polierten Tupferschale konnte ich sehen, daß sie bemüht waren, mich zu einem Irokesen umzustylen, ich bekam eine Kahlstelle von der Größe eines Fünfmarkstückes, meine Schönheit schmolz dahin.
Endlich, nach zwei oder drei Ewigkeiten, schob sich der Chef der Truppe einen Stuhl neben mein Bett. »Da ist jemand für Sie«, sagte er und reichte mir unwillig ein Telefon.
Es war Wiedemann. Er fragte: »Waren die Bemerkungen der beiden Jugendlichen eindeutig? Haben die auf Sie gewartet?«
»Eindeutig. Die wußten, daß wir kommen würden. Woher, weiß der Kuckuck, aber sie wußten es.«
»Der Schmächtige nicht«, sagte er. »Dieser Bulle wußte es. Aber er sagt nichts. Na ja, vielleicht morgen, vielleicht übermorgen. Ich lasse die jetzt zu den Eltern bringen. Das ist wahrscheinlich schlimmer als Knast.«
»Sind Sie weitergekommen?«
Wiedemann grunzte unwillig. »Nicht sonderlich. Rodenstock hat was, aber er redet nicht drüber, bis er sicher ist.«
»Was war es für Gift?«
»Wir wissen es immer noch nicht. Wir müssen in die Feinanalyse samt Gewebeschnitten gehen. Morgen wahrscheinlich. Gute Besserung.«
Ich gab dem Arzt das Telefon zurück, und er meinte väterlich: »Sie sollten ein paar Tage unser Gast bleiben.«
»Kommt nicht in Frage. Ich kenne das: Wenn ich erst mal im Krankenhaus bin, werde ich krank. Ich habe keine Zeit.«
»Wegen der zwei Leichen?« Er lächelte ganz fein, wie nur Intellektuelle in der Provinz lächeln können.
»Richtig«, nickte ich.
»Versprechen Sie, sofort zu kommen, wenn etwas nicht stimmt?«
»Ich verspreche alles.«
»Okay, okay. Da ist eine junge Dame, die behauptet, sie fahre mit Ihrem Auto durch die Gegend.«
»Das ist meine Soziologin«, sagte ich grinsend.
»Sie haben sowas?« fragte er.
»Wer hat heute keine?« fragte ich.
Tatsächlich saß Dinah Marcus unten in der Empfangshalle und las Illustrierte. »Hallo«, grüßte sie, »Sie sehen ja wirklich prima aus.«
»Kein Kommentar«, sagte ich. »Schnell nach Hause, ich muß ins Bett.«
»Sehr vernünftig«, murmelte sie. »Ich auch. Ihr Auto finde ich übrigens prima.«
Mir war nicht nach Smalltalk, ich brummte etwas und versuchte frische Luft zu gewinnen.
»Das hätte schiefgehen können«, sagte sie. »Zehn Zentimeter weiter nach rechts, und Sie hätten einen Schädelbruch gehabt.«
»Ich will keine Konjunktive diskutieren. Waren Sie in der Hütte?«
»Na sicher.«
»Irgend etwas gesehen, was Sie neugierig machte? Ich meine, außer den Einzelheiten eines Liebesnestes?«
»Da war ein Video, offensichtlich ein privates. Da stand Mama Natascha drauf.«
»Und? Angesehen?«
»Ich habe kein Videogerät. Aber ich habe das Band geklaut. Es liegt im Handschuhfach.«
Einen Moment lang konnte ich nichts sagen. »Sehr umsichtig«, lobte ich dann. »Wiedemann wird Sie dafür hängen.«
»Aber seine Leute waren zu dämlich, es zu sehen.« Ihre Stimme klang vorwurfsvoll.
»Wo war es denn?«
»In einem männlichen klobigen Wanderschuh«, erklärte sie befriedigt.
»Wir kopieren es und schenken es ihm«, entschied ich. »Wenn Sie wollen, können Sie auf dem Sofa im Arbeitszimmer schlafen.«
»Ich habe gehofft, daß Sie so etwas sagen«, knurrte Dinah. »Ich kann nämlich nicht nach Hause.«
»Wieso das?«
»Da liegt ein Macker rum, der sehnsüchtig wartet. Das einzig Gute an ihm ist seine Lederjacke.«
»Auf was wartet er denn?«
»Auf mich natürlich«, sagte sie nicht ohne Stolz. »Er wartet dauernd auf mich.«
»Und wahrscheinlich nimmt er das Geld des Erzbischofs, wenn Sie es verdient haben.«
»Das nimmt er gern«, nickte sie. »Dann geht er Knoblauchspaghetti essen und lobt mich eine Flasche Wein lang für meinen Arbeitseinsatz. Er ist ein ganz sensibler...«
»So Leute kenne ich auch. Du sagst ihnen, daß du sie nicht magst, und sie fragen dich vorwurfsvoll, ob du es denn vor dir selbst verantworten kannst, Mitmenschen so etwas Mieses zu sagen. Wie lange wird der Macker jetzt warten?«
»Das richtet sich danach, wann ihm der Wein ausgeht und wann das Brot alle ist. Also bis morgen, schätze ich.«
»Das Asylgesuch ist angenommen«, entschied ich.
Rodenstock stand unter der Laterne vor meinem Haus und grinste. Er tönte: »Im Dienste der Gerechtigkeit.«
»Hör auf mit dem Scheiß«, murrte ich.
»Ich habe etwas«, sagte er beschwichtigend. »Ich habe etwas wirklich Wichtiges.«
»Das will ich hören«, forderte die Soziologin.
Wir gingen also ins Haus und setzten uns erwartungsvoll wie Schulkinder.
»Die Kyllheim-Finanzierung ist zusammengebrochen«, berichtete Rodenstock gedankenvoll. »Das Land hatte weitere sechs Millionen versprochen, hat sie aber heute zurückgezogen und auf drei Millionen gekürzt. Das hat dazu geführt, daß einige Handwerker abgesprungen sind. Sie haben sich geweigert und sind samt ihren Bautruppen abgezogen.«
»Kann es sein, daß der Mörder das wußte?« fragte Dinah Marcus.
»Das kann sein«, nickte Rodenstock. »Aber das kann nicht der Grund gewesen sein, Pierre Kinn und Heidelinde Kutschera zu töten. Kinn war nur Vertreter der Banken, und Heidelinde Kutschera hatte überhaupt nichts mit den Finanzen zu tun. Aber das ist noch nicht alles. Die Finanzbasis, auf der das Projekt eigentlich stand, ist auch zusammengebrochen. Da wollen einige Leute verdammt viel Geld wiederhaben. Runde acht Millionen.«
»Charlie!« rief ich und begann zu begreifen.
»Nicht nur Charlie. Der hat rechtzeitig zurückgezogen«, widersprach Rodenstock, »und seine drei Millionen meine ich gar nicht. Als die Planung des Projektes begann, machte man sich erhebliche Gedanken, wie man die erste Finanzierungsstrecke schaffen könnte. Der Trick war uralt. Jeder Handwerker, der in dem Projekt beschäftigt sein wollte, mußte sich schriftlich verpflichten, ein Apartment im Werte von rund zweihunderttausend Mark zu kaufen. Er mußte die Kaufsumme hinlegen. Auf diese Weise konnten die Banken bereits rund 25 bis 30 Millionen nachweisen, ehe überhaupt der erste Bagger auftauchte. Das wiederum verhalf dem Projekt zur notwendigen Glaubwürdigkeit, weshalb Land und Bund mit Krediten winkten. Das heißt, die 30 Handwerker, die eingesetzt wurden, haben zunächst dafür sorgen müssen, daß ihre Arbeit überhaupt stattfinden konnte. Jetzt haben wir den Salat, denn denen gehören jetzt Apartments, die es gar nicht gibt.«
»Wieviel Motive sind denn das?« fragte die Soziologin.
»Dreißig«, antwortete Rodenstock mit leichtem Lächeln. »Und Pierre Kinn war der Mann, der die Apartments verscheuerte, um die Finanzierung sicherzustellen.«